Chris Lopatta und Gerald Karpa sind Union-Fans. Und das seit frühen Kindertagen. Der eine liebt Statistiken, aber findet es nicht schlimm, wenn Union verliert. Der andere sammelt Dokumente und Relikte der Union-Geschichte, aber vermisst noch immer die alles entscheidende Urkunde. Von Stefan Ruwoldt

Alle suchen. Schon seit Jahren. Aber sie finden nichts: keine Bilder von einem Handschlag oder von einem applaudierenden Publikum. Noch nicht einmal eine Urkunde mit Unterschriften oder wenigstens ein Protokoll. Nichts. Der 20. Januar 1966, das Gründungsdatum des 1. FC Union Berlin, ist lausig dokumentiert.

Immerhin: Es gibt eine Art Beschwerdebrief an den ostdeutschen Sportverband, den DTSB, über das erste Spiel des neuen Vereins. Es fand in Thüringen statt, in Oberschönau auf einer verschneiten Trainingswiese im Mittelgebirge fernab von Köpenick und Oberschöneweide. Die Spieler trugen verschiedenfarbige Jacken, denn es war kalt, und dagegen mussten sie sich rüsten. Kälte, Schnee, nur eine Handvoll Zuschauer - und ein Schiedsrichter, der wollte, dass die Spieler einheitliche Kleidung trugen. Das war das erste Spiel des 1. FC Union Berlin. Und natürlich schrieb der Schiedsrichter eine Beschwerde. Die erste des neuen Clubs.

Klingt ausgedacht, ist es aber nicht

Die Geschichte vom Urknall, der Entstehung des 1. FC Union Berlin klingt ausgedacht, fast so, als hätte sie jemand angepasst an das Bild, das der Verein seit Jahrzehnten von sich pflegt: die Geschichte des Underdogs. Union – das ist der Bundesliga-Verein, der im Wald spielt, der sein Stadion partout nicht nach einem Autokonzern benennen will, wo die Fans bei Kerzenschein auf kalten Rängen mit Kind und Kegel Weihnachtslieder singen und wo der Weg zum Stadion noch nicht einmal gepflastert ist: immer sandig, oder glatt oder matschig und voller Pfützen. Dieser Verein feiert am 20. Januar sein 50jähriges. Es ist eine glorreiche Geschichte. Natürlich.

"Union? - Da gibt es schon viel zu erzählen", sagt Gerald Karpa. Er könnte stundenlang über den Verein sprechen, seinen Verein. Nur an einer Stelle kommt er ins Grübeln und braucht holprige Erklärungen: bei der Gründungsurkunde. Sie ist partout nicht zu finden. Es gibt sie einfach nicht.

"Noch nicht", berichtigt Karpa. Er will es nicht dabei belassen, dass der eigentliche Beweis fehlt. Karpa ist noch auf der Suche nach diesem Dokument. Er ist der "Klubchronist" und hat sich in den letzten Jahren umgehört, er hat gebohrt, gestochert, nachgefragt und nachgehakt, bei Archiven, Behörden, Privatpersonen. Doch bislang vergeblich. Nichts, keine Urkunde.

Ein Teppich ist der Höhepunkt

"Möglicherweise finden wir sie noch", sagt Karpa, und zwanzig verständnisvolle Unionfans nicken dazu ganz langsam mit dem Kopf, als hätten sie gerade erfahren, dass Karpa schwanger ist und jetzt ganz viel Ruhe braucht. Es ist mitten in der Woche, ein Winterabend, und sie stehen an einer Art Schrein, einer beleuchteten Vitrine mit Dokumenten und Gegenständen über den Ursprung: einem verwackelten Foto vom Festakt mit einem "1. FC Union Berlin"-Schild an einer Festsaalbühne, mit Kopien von Briefen und mit komischen Gegenständen wie etwa einem Plüschteppich mit dem Union-Logo. "Balletage" heißt der Raum, der bei den Union-Spielen eine der neuen VIP-Logen ist im dritten Stock des Tribünenneubaus.

Karpas Zuhörer finden den Teppich gut, fotografieren ihn und lassen sich mit ihm im Hintergrund fotografieren. Sie sind Fans, manche Dauerkartenbesitzer und einige sogar Vereinsmitglieder. "Eisern", hatte einer von ihnen zur Begrüßung gesagt. "Eisern", bekam er zu Antwort.

Zum Fan-sein gehört der Gruß

"Eisern", sagt auch Chris Lopatta gerne. "Eisern! - So sollten sich eigentlich alle Unioner begrüßen." Er überlegt kurz und bestätigt es sich dann noch einmal selber: "Joh, alle. Ich jedenfalls mach es."

Lopatta ist Fan. Seit 40 Jahren. Ähnlich wie der Vereinschronist Karpa macht Lopatta Führungen durch das Stadion und weiß alles über den Verein. Seine Couch schmückt eine Decke mit Vereinslogo, er hat eine kleine Ritter-Keule-Figur von Union im Bücherregal und natürlich T-Shirts, Sweatshirts und Sommerjacken auf denen irgendetwas an Union erinnert. Sogar einen Schlafanzug in Rot-Weiß mit Union-Logo. "Den hab ich für 'n Zehner gekriegt - mit 'ner Unterschrift von Mattuschka", sagt er und präsentiert den Pyjama vor seinem Bauch. Allerdings schont er die Textilie. Das ist er Mattuschka schuldig.

Lopatta macht diese Führungen durch das Stadion an der alten Försterei, weil er sich auskennt. Wer von Lopatta geführt wird, erfährt alles aus erster Hand. Kein Wikipedia und keine Spickzettel. Seine Dokumente zur Union-Geschichte hat er immer griffbereit. Tauchen Fragen auf zu Ansetzungen oder Zuschauerzahlen, geht Lopatta ans Regal und holt seine Kladden. Er hat Tagebuch geführt. Darin sind die Daten aller Spiele, aller Gegner und aller Zuschauerzahlen. Torschützen aber hat er nicht notiert, oder nur manchmal. Dafür stehen in seinen Büchern die Namen seiner Kumpels, mit denen er da war. Das waren dann vielleicht Sieimi, oder Lupe oder Lietze. Und manchmal hat Lopatta auch groß reingeschrieben "Alleine."

Nach dem Spiel in Leipzig war entschieden: Von nun an Unioner

Alleine war Lopatta aber bei seinen Fahrten zu Union nur selten. Er wohnte mit seiner Mutter in Mitte, konnte auf dem Weg von der Schule noch schnell seine Mappe zuhause abwerfen und spätestens, wenn er in der S-Bahn Richtung Köpenick saß, war er umringt von Unionfans.

Vor seinen ersten Fahrten zur "Alten Försterei" hatte Lopatta allerdings dem BFC eine Chance gegeben. "Saison 76-77", sagt er. "Vier, fünf, sechs Spiele im Jahn-Sportpark" zählt er vor, während er in seinen Tagebüchern blättert. "Und dann haben die da immer gerufen 'Scheiß Union! Scheiß Union!'- Aber keiner von Union da. Da wollte ich natürlich wissen: Was meinen die? Also: Ab zu Union!"

Die Heimspiele beider Vereine hat er dann im Wechsel gesehen. "Nach dem letzten Spieltag der Saison war es dann entschieden: Nur noch Union. Sogar Testspiele und das 17. Spiel auswärts in Leipzig", sagt Lopatta. Er nickt dabei ein bisschen und lacht, als wäre etwas Komisches an diesen 1:0- oder 0:0-Ergebnissen in seinem Tagebuch. Er liest es gern. Es sind die Beweise dafür, dass er alles richtig gemacht hat.

Kleine Bühne, kleines Publikum – aber die, die kommen, meinen es ernst

Aber Lopattas Begründung für dieses "richtig gemacht" hört sich holprig an: "1:0-Zittersiege, Niederlagen und später noch mehr Niederlagen – das hat einen nicht gestört." Aber wie kann es einen Fußballfan nicht stören, dass seine Mannschaft verliert. Lopatta zuckt mit den Schultern.

"Warum Union?- Ich weiß nicht", sagt er, und fragt sich selbst, als wisse er die Antwort auch nach 40 Jahren Fanschaft noch immer nicht. Dann fängt er an zu erzählen : "Es gab nichts cooleres als Union. Da wo die SED-Mitglieder am Anzug ihr Parteiabzeichen hatten, da hatten die Unioner an ihrer Jeansjacke die Union-Nadel."

"Widerstand?" fragt er sich dann wieder und antwortet auch gleich: "Nö. Cool. Einfach cool." Und friedlich war das Ganze damals auch nicht immer. "Gewalt – ja, Union hatte immer einen schlechten Ruf", sagt Lopatta und redet dabei nicht wie ein Fan, sondern eher wie ein Anwalt. "Gewalt? - Das habe ich abgelehnt. Prügeln? - Nee. Aber das Rebellische, das Wilde, das Laute - ja, das war es. Das war Union."

Lopattas Lebenslauf liest sich ein bisschen wie der von Union. Er ist Schauspieler und braucht das Publikum. Nach dem Abitur war er Pförtner an der Hochschule für Musik, dann Schauspielschule, um die Wende herum war er am Theater in Greifswald, und bis vor wenigen Jahren für fast 17 Jahre am Theater der Jungen Welt in Leipzig. Kleine Bühnen, kleines Publikum – aber die, die kommen, meinen es ernst.

"Nach der Wende gab es dann vor allem Spiele gegen Vereine wie Aktivist Schwarze Pumpe und Fürstenwalde vor 300 Zuschauern - dit is keen Spaß“, liest er vor. "In Guben dann ein paar mehr. Richtig aufgehört hat's ja bei mir nie", sagt Lopatta. Applaus und Pfiffe, damit muss er umgehen am Theater. Genau wie die Spieler auf dem Platz.

Hertha - eine Option?

Lopatta lässt sich auf eine Art Fragespiel ein:

- "Und dann kam der Westen - musste es dann wirklich weiter Union sein. Warum nicht Hertha?"
- "Nee."
- "Nie?"
- "Nee."
- "Aber Hertha! Erste Bundesliga zwar damals nur kurz, aber eben immer weiter oben?"
- "Nee."
- "Vereinte Stadt, neuer Verein?"
- "Nee."
- "Mensch! Hertha! Eigentlich ja auch 'n Arbeiterverein!"
- "Nee."
- "Wedding!"
- "Nee."
- "Andere Fangesänge vielleicht, mal was Neues?"
- "Ha Ho He – Wie klingt denn ditte?“
- "Das große Stadion, Olympiastadion – hinsetzen und mehr Zuschauer?"
- "Neenee. Vor dem Fall der Mauer hab ich auch gesungen: 'Wir halten zusammen wie der Wind und das Meer, das Meer – die blauweiße Hertha und der FC Union.' Aber dann – nee. Die Option gab es für mich nie."

Und weil das Stichwort "Stadion" gefallen ist, holt Lopatta die Erinnerungen vom Stadionbau bei Union raus, 2008. Auf seinem Fensterbrett steht ein Bohrkern, er hat einen kleinen Behälter, in dem alles Mögliche klappert und natürlich hat er einen Bauhelm und tausend Bilder aus den Monaten des Stadionumbaus, zu dem Union damals all seine Fans um Hilfe gebeten hatte: Lopatta in kurzen Hosen und Lopatta im Schnee, Lopatta mit einer Art Bohrhammer und Lopatta am Fundament. "Meistens aber mit Schippe. Ich bin Schauspieler, Bagger konnt' ich nich."

Die Trophäe der Trophäen

Und nach dem großen Stehtribünen-Neubau kam dann ein paar Jahre später noch die neue Ehrentribüne, das Haupthaus. "Ja, wirklich gut", sagt Lopatta anerkennend, "aber Sitzplatztribüne? – Ein Mal – ja, aber für normal geht das nicht. Wenn Du da 'mal 'was rufst, dann wirst Du gleich komisch angekuckt. Ja, man sieht grandios, aber sonst – nee."

Die Rundgang-Gäste von Klubchronist Karpa sehen das ähnlich. Fabian ist zusammen mit seinen Kumpels da und reagiert auf die Fragen nach ihrer Fanschaft mit Stichworten. "Köpenicker, schon 37 Jahre", "Och, oder fast", "Ja" und "Waldseite, zusammen mit die Herr'n hier" antworten Fabian auf die Fragen, wo er herkommt, wie lange er Fan ist, ob er Mitglied ist und wo er bei Spielen steht.

Karpa entschuldigt sich fast ein bisschen für seine Gäste. "Fragen werden jetzt nicht so viele gestellt. Darum erzähle ich das meiste am Anfang und dann kann jeder gucken." Und genau das passiert auch. Nach der ersten Vitrine ist die Gruppe schon ein wenig gesprengt. Sie bleiben an den Bildern der ganz alten, alten, mittelalten und jüngeren Union-Größen stehen, zeigen auf die Spieler und rufen sich die Namen zu. Die Bildunterschriften brauchen sie nicht: "Seier!", "Sträßer, ja – oder?", "Mattuschka, na klar!", "Oh – Matthies, Wolfgang, jenau!", "Natürlich hier - Mäcki Lauck!" und "Ach dit is Hoge?"

Das größte und schwerste Exponat der Ausstellung ist dann der Pokal. Die Stationen der Vorgängerverein des 1. FC Union, FC Olympia und Union Oberschöneweide, gegründet zu Beginn des Jahrhunderts, sind Randnotizen in Karpas Rundgang. Der Höhepunkt ist der FDGB-Pokal 1968. "37 Kilo" sagt Karpa. Und alle schürzen anerkennend die Lippen. FDGB-Pokalsieger 1968 - Unions einziger echter nationaler Titel. Ja, es gab auch Berliner Pokale und die Trophäen von Drittliga-Meisterschaften. Aber hier an den FDGB-Pokal will jeder ran. Und das größte Lob dafür? - Natürlich ein Witz. Silvio sagt: "Kicka dit Unterteil? - Sieht aus wie 'n Eimer."

Fragen hat dann eigentlich keiner mehr. "Allet jesehn" sagt einer und ein zweiter "Beeindruckend, nee wirklich."  Ein "Interessant!" fällt auch noch und langsam holen sie sich dann auch schon ihre Jacken von den Bänken der "Balletage". Ihr Heimwege führt sie über den gepflasterten Parkplatz mit Parkbuchten die Namen tragen wie "Promenade der Schlosserjungs" und "Allee der Eisernen". Zum nächsten Spiel aber geht es dann wieder durch die Eierpampe.

- "Waldseite?"
- "Waldseite!"
- "Eisern!"
- "Eisern!"

Lopatta wäre stolz auf sie.  

Union-Fans und ihre Heiligtümer