Theaterkritik | "Verirrten sich im Wald" im DT - "Kuckuck, Kuckuck", ruft's aus der VR-Brille

So 31.03.19 | 09:37 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Das Pressebild des Deutschen Theaters zeigt eine Szene der Inszenierung "Verirrten sich im Wald" (Bild: Arno Declair)
Bild: Arno Declair

In der Box des Deutschen Theaters Berlin erzählt Robert Lehniger das Märchen von Hänsel und Gretel in vielen Variationen - und mit Tablets und VR-Brillen. Das hat einigen Schauwert, doch der Abend verliert sich in seinen technischen Möglichkeiten. Von Fabian Wallmeier 

Schon vor dem Einlass in die Box des Deutschen Theaters beginnt das Stück: "Das ist Augmented Reality - erweiterte Realität", erklärt ein junger Spieler mit Tablet eifrig einer älteren Zuschauerin. Die nickt freundlich und schaut interessiert auf den Bildschirm, auf dem auf einmal das virtuelle Modell eines Hauses erscheint, als das Tablet ihr Programmheft scannt. Der Bildungsauftrag ist klar: Das Publikum des Deutschen Theaters soll hier sanft an moderne Theatertechniken herangeführt werden: virtuelle Realität (VR) und Augmented Reality (AR).

Regisseur Robert Lehniger hat sich dafür einen der bekanntesten Märchenstoffe ausgesucht: Hänsel und Gretel. "Verirrten sich im Wald" heißt der Abend - nach der zweiten Zeile des Kinderlieds über die von ihren Eltern ausgesetzten Geschwisterkinder. Zusammen mit zehn jugendlichen und drei älteren Laiendarstellern des Jungen DT und dem VR-Duo CyberRäuber stellt Lehniger die Geschichte auf den Kopf und spielt sie fragmentarisch in mehreren Was-wäre-wenn-Variationen durch.

Einmal etwa sind Hänsel und Gretel traumatisiert und werden in einem Verhör dazu gedrängt, sich zu erinnern. "Ich bin da immer noch im Wald", sagt die verängstigte Gretel. Ein anderes Mal ziehen die Geschwister als weibliches Duo "Gretel und Hansa aka G-Granade und Bloody Knuckles" schießend und Granaten werfend durch den Wald.

VR-Hänsel wird mit Beeren gefüttert

Nach dem Vorspiel vor der Box und einer Begehung des Bühnenbilds mit Tablets sieht die Inszenierung eine klassische Theateranordnung vor: Man sitzt, während vorn gespielt wird. So kommt dann auch die virtuelle Realität nur im Sitzen zum Zuge und wird ihres 360-Grad-Rundumblick-Schaueffekts beraubt: Ein Hänsel reicht mir eine VR-Brille. Im virtuellen weißen Raum steht nun ein anderer Hänsel vor mir, hinter ihm eine Gretel, die ihm immer mehr rote Beeren in den Mund schiebt. "Kuckuck", ruft aus einem kleinen Lautsprecher in der Brille immer wieder fröhlich eine Stimme. Irgendwann zerfällt die virtuelle Welt, unzählige Lichtpunkte sind nun zu sehen. Aha. Ich gebe die Brille weiter. Auf der Bühne hat derweil eine andere Gretel übernommen, sie legt Steine als Spuren, erzählt ihre Version der Geschichte als atemlose Flucht.

Was die CyberRäuber an VR und AR auftischen, sieht imposant aus - doch es wird nicht zum organischen Teil der theatralen Erzählung. Von Spuren wird zwar immer wieder geredet, wenn die Spielerinnen und Spieler ihre Tablets auf im Bühnenbild und auf den Kostümen angebrachte Codes richten - doch diese Spuren führen nicht wirklich in das ohnehin zerklüftete Bühnengeschehen hinein. Wenn am Ende konstatiert wird, man müsse "zurück zum Anfang", ist das wohl als Klammer, als Abrundung der Erzählung gemeint, doch es hat den Beigeschmack eines Eingeständnisses: Was wir hier an AR-Spuren gelegt haben, haben wir gezeigt, weil es geht - aber weitergebracht hat es uns eigentlich nicht.

"Das gilt es abzuchecken"

Letztlich funktioniert der Abend am Besten ganz klassisch als kraftvolles vielstimmiges Jugendtheater, mit hübschen Sprüngen zwischen den zeitlichen Ebenen und den Altersstufen der jeweiligen Hänsels und Gretels - und mit geschickt eingesetzten Videoprojektionen: Ein bewegliches Holzhaus steht im Zentrum der Bühne - was angeblich darin passiert, wird auf seine Außenwand projiziert.

Sprachlich mutet "Verirrten sich im Wald" aber an einigen Stellen merkwürdig an, wenn der Text unvermittelt von lockerer Jugendsprache in altertümlichen Grimmschen Ton und zurück springt: Von Rockstars und Landsknechten ist da die Rede, von "gebieterischen Tannen" - und an einer Stelle heißt es "Die Spuren bilden eine geometrische Figur und die Linien dazwischen gilt es abzulaufen, abzuchecken".

Thematisch hat sich Lehniger außerdem mehr vorgenommen, als in den eine Stunde kurzen Abend passt: Neben den ohnehin schon vielen verschiedenen Deutungen und Überschreibungen des Märchenstoffs macht er auch einen Ausflug in die Physik und in die Philosophie, lässt Hänsel und Gretel von Materie und Antimeterie sprechen, von Mehrdimensionalität und der Frage nach der Einzigartigkeit des Menschen.

In seinem Überangebot an Motiven, Variationen und erzählerischen Formen ist "Verirrten sich im Wald" sicher ein kurzweiliger und sympathischer Abend. Aber die naheliegende Frage, wie VR und AR das Theater sinnvoll erweitern und bereichern können, beantwortet er nicht.

Beitrag von Fabian Wallmeier

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