Interview | ESC-Finale am Samstag - "Es ist einfach eine bunte Seifenblase"

Sa 18.05.19 | 08:16 Uhr
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ESC 2018 in Minsk (Quelle: dpa)
Audio: Inforadio | 15.05.2019 | Alexander Schmidt-Hirschfelder | Bild: dpa

Der Eurovision Song Contest, der am Samstag wieder startet, vermittelt Jahr für Jahr ein diffuses Gemeinschaftsgefühl. Doch wieviel Europa steckt wirklich im ESC? Eine große Rolle spielt es nicht mehr, sagt der Künstler und ESC-Fan Tex Rubinowitz im Interview.

rbb: Herr Rubinowitz, viele glauben immer noch, es ginge beim Eurovision Song Contest primär um Musik. Doch worum geht es tatsächlich?

Tex Rubinowitz: Um das Gesamtpaket: die Darbietung, die Flamboyanz, dieses Schillernde, das Große, das Gemeinschaftliche an einem Samstag im Mai. Ich würde es eher als großes Fernsehmöbel bezeichnen, das es schon seit mehr als 60 Jahren gibt. Aber ich glaube nicht, dass Generationen nachwachsen. Viele neu antretende Song-Contest-Teilnehmer wissen auch gar nicht, was diese große Zeit der 1960er oder 1970er Jahre war – mit Abba oder Johnny Logan. Aber es ist eigentlich eine etwas komische Illusion, dass man etwas Europäisches auf die Bühne stellt.

Manche sagen, es sei ein Trash-Wettbewerb. Wie wichtig ist diese Veranstaltung für unser europäisches Gefühl?

Nicht mehr so wichtig, wie vielleicht Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, wo Europa nach dem schrecklichen Krieg im Aufbau war. Ich bezweifle, dass sich die heutigen Zuschauer mit einem Europa-Gedanken identifizieren. Durch die Ost-Öffnung sind sehr viele Länder dazugekommen, die mit dem alten Europa nicht mehr viel zu tun haben. Wir wissen nicht, was in Aserbaidschan oder in Armenien vor sich geht. Aber der Krieg zwischen beiden Staaten ist noch immer ein Thema: Nehmen die einen teil, nehmen die anderen nicht teil. Europa ist also nach wie vor gespalten. Als Salvador Sobral im vorletzten Jahr für Portugal gewonnen hat, war das noch ein Sieg des "alten" Europas. Doch eigentlich spielt das alte Europa kaum noch eine Rolle beim Song Contest. Sehr vieles findet im Osten statt, wo ganz neue Methoden praktiziert werden, wie man gewinnen kann - etwa, indem man sich teure Komponisten aus Amerika leistet. Es ist also alles nicht so europäisch, wie es vielleicht tut. Aber inzwischen ist es vielen Leuten auch egal, wer das komponiert hat und ob das jetzt europäisch ist. Es ist einfach eine bunte Seifenblase, die einmal im Jahr stattfindet.

Trotzdem kreiert der ESC für manche die Illusion des Europäischen. Ich würde vielleicht sogar sagen, dass im ESC etwas geradezu Kathartisches liegt. Erst hat man diese Illusion der Gemeinschaft: Alle Länder werden nacheinander auf der Bühne bejubelt und dann das raue Erwachen bei der Punktevergabe. Sehen Sie das ähnlich?

Kathartisch würde ich nicht sagen. Es ist eher fast so ein Pferderennen. Man setzt auf ein Pferdchen und wundert sich, dass dieses Pferd strauchelt und ein anderes Pferd weiterkommt. Es ist eine Ratlosigkeit. Wirklich begeistert sind die wenigsten – außer die Leute, die sich das in großen Gemeinschaften oder Gruppen vor Ort anschauen. Dann ist wirklich eine Riesenstimmung. Aber ich glaube, oft sind die Leute auch fassungslos, was dort als gut bewertet wird oder was durchfällt. Es gibt so einen schrecklichen Begriff, der heißt Ekelfaszination. Das lässt auch bei Auffahrunfällen die Leute stehen bleiben. Sie wollen nicht hinschauen, tun es aber dennoch. Es ist schwierig, das dezent auszudrücken.

Trotz aller Veränderungen gewinnen hin und wieder die "klassischen alten westeuropäischen Länder". Auch dieses Jahr ist der haushohe Favorit ein Niederländer mit einem Song über eine enttäuschte Liebe. Was sagt das aus über den ESC?

Man hat in der Geschichte des Song Contests immer wieder sehen können, dass die Nationen auf ein Muster oder Modell reagieren, das schon einmal siegreich war. Etwas wirklich Neues gibt es selten. Vielleicht sind die Leute auch ein bisschen müde und wollen diese osteuropäische Phalanx, die häufig siegreich war, dieses Muster, nicht mehr mitmachen. Vielleicht ist auch eine bestimmte Stimmung in Europa: Irgendwas geht hier schief und wir haben eine Sehnsucht nach Melancholie.

Beim ESC stehen nicht nur die Sieger im Rampenlicht, sondern auch die Zweitplatzierten und die Null-Punkte-Teilnehmer. Warum ist das eigentlich so?

Wir sind Deutsche, Österreicher oder Aserbaidschaner und versuchen, uns zu identifizieren. Auch wenn wir keine Nationalisten oder Patrioten sind, schlägt unser Herz doch für irgendetwas - und sei es für Verlierer. Mich haben die Verlierer eigentlich immer sehr interessiert. Wenn etwa der Song Contest in Österreich stattfindet, nachdem Conchita Wurst gewonnen hat, und dann Österreich und Deutschland keinen einzigen Punkt bekommen, ist es so absurd, dass man sich denkt: Wo ist denn da die Dankbarkeit beim Gastgeber? Ich schau das jedes Jahr und natürlich habe ich auch Favoriten, die ganz schlecht abschneiden. Ich mache mir dann Gedanken: Kapieren diese Leute die Qualität von diesen oder jenen Teilnehmern nicht? Aber sich darüber zu ärgern, hat überhaupt keinen Sinn: Ich entscheide das nicht, sondern es entscheiden auch Leute in Georgien oder Weißrussland.

Ärgern Sie sich manchmal am Tag danach?

Man muss das in Gruppen sehen, wetten - dann kommt Leidenschaft und Spaß dazu. Das ganz ernst zu nehmen, ganz von einem musikalischen, wissenschaftlichen Standpunkt zu beurteilen, macht überhaupt keinen Sinn. Es ist eine schillernde Seifenblase. Die Gewinner sind ja danach weg. Lena Meyer-Landrut und Conchita Wurst schafften es beide nicht, irgendetwas aus ihrem Sieg zu machen. Man sieht dieses Abstrampeln. Noch schlimmer sind  diese ganzen Sieger aus Aserbaidschan oder die arme Maria Šerifović aus Serbien, augenscheinlich eine Lesbe, die das aber nie sagen durfte. Was macht die jetzt? Das ist tragisch. Diese Songs werden für diesen Abend gemacht. Außer Abba ist da niemals irgendwer nachhaltig vorhanden gewesen.

Die Punk-Rock-Band Hatari besingt in diesem Jahr auf Isländisch – manche sagen ironisch – den Untergang Europas. Was sagt das über den ESC und hat Hatari mit dieser Message eine Chance?

Nein. Natürlich wird Island viele Punkte bekommen aus den skandinavischen Ländern, das ist immer so gewesen. Dennoch hat der Song letztlich keine Chance. Doch ich würde mir wünschen, dass Island gewinnt, weil ich mal nach Island fahren möchte, um mir die Euphorie danach anzuschauen, wie damals als Finnland oder Portugal erstmalig gewonnen haben. Aber ich bin da nicht mehr so leidenschaftlich. Dann gewinnt halt Holland, zu gönnen wäre es ihnen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Alexander Schmidt-Hirschfelder. Dieser Artikel ist eine gekürzte und redigierte Fassung. Das ganze Gespräch können Sie hören, wenn Sie auf den Abspielknopf im oberen Bild klicken.

15 Kommentare

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  1. 14.

    Außer Abba... Celine Dion kennt der Herr offensichtlich nicht.

  2. 13.

    Das alte Europa findet also kaum noch statt. Zwischen 2009 und 2019 hat 8 Mal Westeuropa gewonnen. Vielleicht erst Siegerlisten lesen, ehe man sich verzettelt.

  3. 12.

    Ehe nun alle hier den ESC völlig fertigmachen, ich sah mir zum ersten Mal im Leben diese Show von Anfang bis Ende an und war sogar angenehm überrascht, was dort alles an Performance geboten wurde. Für mich hat es sich gelohnt und für mich waren die Schweden meine Favoriten. Glückwunsch an Holland.

  4. 11.

    Madonna ist 60 Jahre alt und die Interpretation von Like a Prayer war eine ganz neue und total cool...
    mal ganz anders.
    Was der Mainstream kennt sind Studioproduktionen mit Stimmeffekten und Refrainüberlagerungen auf die Strophen, die natürlich Live so nicht mit einer Person gesungen werden können.
    Außerdem war ihre Stimmlage wie sie immer Live ist.

  5. 10.

    Am besten den Zirkus beenden....für immer

  6. 9.

    Die hätten mal Rammstein hinschicken sollen, dann wäre es wahrscheinlich was geworden. Das was wir seit Jahren abliefern ist einfach nur peinlich. Vielleicht sollten wir uns mal mit den Skandinaviern unterhalten, die sind immer irgendwie ganz oben mit bei.

  7. 8.

    Mit einem Songcontest hat diese Veranstaltung nichts mehr zu tun . Jeder produziert sich so unmöglich und schräg wie möglich. Auf das Singen kommt es nicht mehr an. Es muss nur auffällig sein. Dass der deutsche Beitrag keine Chancen hat wusste man doch vorher. Ich frage mich nur, wer den ausgewählt hat.

  8. 7.

    Wieviel Liebe und Toleranz im ESC steckt, haben die Reaktionen gezeigt, als die Isländer einen Schal mit der Aufschrift "Palestine" in grün/weiß vor die Kameralinse hielten.
    Sofortige Ausblendung und die Buh-Rufe des Publikums haben in gezeigt, dass Musik die Länder nicht im geringsten zusammenbringt, bzw. die an dem Abend immer wieder gebetsmühlenhaft dargebrachten Liooenbekenntnisse der universellen Liebe nur Show sind.
    Da wirkte das Ensemble der Mideastmusiker lächerlich.

  9. 6.

    Die Länder des ESC haben "S!sters" nicht abgenommen, dass die Gangstah-Sisters sind. Mit dem Ausrufezeichen ist das nur geistiger Bullshit "szenetechnisch" cool zu sein. Alles zu brav.
    Mal sehen 2020, was der nächste Flitz ist...
    Oder gleich besser Rammstein feat. Toten Hose Campino in Häftlingskleidung schicken. Dann klappt 100% mit dem 1.Platz

  10. 5.

    wieder eine Null-Nummer. Gratulation an das nicht deutsch-singen-wollende Deutschland.

  11. 4.

    Ziemlich schräge und auch osteuropafeindliches Aussagen, wie ich finde.

    "Ich bezweifle, dass sich die heutigen Zuschauer mit einem Europa-Gedanken identifizieren."
    Diese Aussage ist zumindest, was mich und meine Familie - somit also auch heutige (und auch sehr regelmäßige) Zuschauer des ESC - betrifft, falsch.

    "...Nehmen die einen teil, nehmen die anderen nicht teil."
    Armenien und Aserbaidschan haben dieses Jahr beide teilgenommen.

    "diese ganzen Sieger aus Aserbaidschan"
    Aserbaidschan hat den ESC bislang ein einziges mal gewonnen.

    "diese osteuropäische Phalanx, die häufig siegreich war"
    In den letzten zehn Jahren gab es genau zwei osteuropäische Gewinner.

    "eigentlich spielt das alte Europa kaum noch eine Rolle beim Song Contest."
    Schon mal die Gewinnerliste der letzten zehn Jahre angeschaut?

    *kopfschüttel*

  12. 3.

    Ich schaue jetzt eine ganze Weile rein, ein Song schlimmer als der andere.....

  13. 2.

    Tja viele Köche verderben den Brei...

  14. 1.

    Die Wetten liegen für Deutschland beim letzten Platz. Übrigens sollte das System mal um gestellt werden, dass Deutschland, also Geberland, sich nicht automatisch qualifiziert. Dann würden sie sich mehr Mühe geben.
    Ansonsten freue ich auf Madonna.

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