Fazit zum Filmfestival Cottbus 2019 - Lob für die Schwester, Liebe für die Sonne

Sa 09.11.19 | 22:36 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Film "Sestra"/"Schwester" der Regisseurin Svetla Tsotsorkova. (Quelle: Schwester/29. FilmFestival Cottbus)
Video: Brandenburg aktuell | 10.11.2019 | Philip Manske | Bild: Schwester/29. FilmFestival Cottbus

Im Wettbewerb des Filmfestivals Cottbus fallen starken Regiedebütanten auf. Mit dem Hauptpreis für das Drama "Schwester" war nicht unbedingt zu rechnen, umso mehr mit den Darstellerpreisen - von denen einer zurecht fünffach vergeben wurde. Von Fabian Wallmeier

Rayna nimmt es nicht so genau mit der Wahrheit. Der Kundschaft, der sie ihre selbstgetöpferten Figürchen verkaufen will, erzählt sie die wildesten Lügengeschichten. Zum Beispiel, dass ihre gesamte Familie von der Mafia ermordet worden sei. Mit hellblauen Unschuldsaugen blickt sie in die Kamera - und die Kundschaft kauft.

Die Wahrheit ist weniger spektakulär: Rayna, die Hauptfigur des beim Filmfestival Cottbus mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Films "Schwester" ("Sestra") von Svetla Tsotsorkova, lebt zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter irgendwo in der bulgarischen Provinz. Zu dritt töpfern sie Tag für Tag, wässern und zerschneiden den Lehm, brennen Töpfe und Ziegel. So hart wie die körperliche Arbeit sind auch die emotionalen Panzer, die die drei Frauen mit sich herumtragen. Unnahbar, störrisch und derb sind sie zueinander - und teilweise auch mit der Kundschaft. "Du bist kein Kind, du bist ein Monster", sagt die Mutter irgendwann zu der Heranwachsenden.

Vierter im Bunde ist ein Autohändler, der mit Raynas Schwester zusammen ist. Er wird zum Spielball zwischen den dreien - und trägt letztlich mit dazu bei, dass endlich die verschütteten Konflikte auf den Tisch kommen, die zwischen Mutter und Töchtern schwelen.

Tsotorkova zeigt in ihrem zweiten Film recht eindrücklich und mit viel Zeit, wie sich die Dinge in diesem explosiven Viereck entwickeln. Dass der Film den Hauptpreis bekommen hat, ist dennoch überraschend - denn der in diesem Jahr überdurchschnittliche starke Cottbuser Wettbewerb hatte durchaus offensichtlichere Favoriten im Angebot.

Das überwältigende Rührstück "Die Sonne über mir geht nie unter" ("Min urduber kyun khahan da kiirbet") etwa erzählt von einem jungen Mann, der von seinem Vater in die Tundra auf eine einsame Fuchsfarm geschickt wird - als Erziehungsmaßnahme für den scheinbar Antriebslosen. Dort lernt er den alten Nachbarn kennen - und macht sich zusammen mit ihm per Instagram-Videos auf die Suche nach dessen verlorener Tochter. Der Film ist, vor allem ganz am Ende, alles andere als frei von Kitsch. Aber eine so leicht gespielte, witzige und vor allem zu Herzen gehende universelle Geschichte über Alt und Jung sieht man nicht häufig im Kino. Regisseurin Lyubov Borisova konnte mit ihrem Spielfilmdebüt immerhin die Zuschauer und die Kritiker überzeugen: Sie erhielt den Publikumspreis und den Fipresci-Preis der Kritiker-Jury.

Einer der eigenwilligsten Filme des Wettbewerbs blieb dagegen unprämiert: "Die Gedanken sind frei" ("Moi dumky tykhi") von Antonio Lukich sticht in einem an starken Debütanten ungewöhnlich reichen Wettbewerb besonders hervor. In seinem ersten Spielfilm erzählt Lukich von einem sehr groß gewachsenen Schlacks, der beruflich Ton-Samples sammelt und deshalb aus Kiew in die ukrainische Provinz zu seiner Mutter zurückkehrt. Wie Lukich den Ton als oft vernachlässigtes Filmelement feiert, wie er sich mit großer visueller Kraft Zeit für scheinbar sinnlose Abschweifungen nimmt, wie präzise er die schräge Hauptfigur in den Blick nimmt und wie überzeugend er den Film am Ende ins Metaphysische weitet - all das lässt auf eine große Karriere hoffen.

Film "Die Gedanken sind frei" ("Moi dumky tykhi") von Antonio Lukich. (Quelle: Die Gedanken sind frei/29. FilmFestival Cottbus)

Fragwürdige Regie-Preisentscheidung

Der Regie-Preis ging allerdings an einen anderen Debütanten: Teodor Kuhn wurde für die slowakisch-tschechische Koproduktion "Mit einem scharfen Messer" ("Ostrým nožom") ausgezeichnet. Die Entscheidung ist einigermaßen wunderlich - der Film ist ein durch und durch konventionell und erwartbar erzähltes Gerichtsdrama - vor allem im Vergleich zum vor Ideen sprudelnden "Die Gedanken sind frei". Kuhn inszeniert es immerhin souverän und mit ruhiger Hand. Dass er dafür einen Preis bekommen hat, liegt vielleicht eher am zweifellos wichtigen Thema des Films: Ein Vater will sich darin nicht damit zufrieden geben, dass drei Neonazis, die seinen Sohn ermordet haben, wegen schlampiger Ermittlungen freigesprochen werden.

Verständlich dagegen sind die Darstellerpreise. Es hätte zwar auch preiswürdige Einzelleistungen gegeben - etwa Kristina Jovanović als vor Adrenalin platzender Teenager Aja in "Love Cuts" ("Reži") oder Monika Naydenova, die in "Schwester" die Rayna spielt. Aber die Jury hat sich für einen Ensemblepreis entschieden: Ausgezeichnet wurden die Darstellerinnen von "Agas Haus" ("Shpia e Agës") - eine kluge Entscheidung. Rozafa Celaj, Adriana Matoshi, Shengyl Ismaili, Melihate Qena und Rebeka Qena spielen mit großer Präsenz fünf sehr unterschiedliche Frauen, die zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden sind. Aus unterschiedlichen Gründen abgeschoben aus der Mitte der männlich dominierten Gesellschaft, leben sie zusammen in einem Haus irgendwo in der kosovarischen Berglandschaft.

Die Langfilm-Debütantin Lendita Zeqiraj erzählt die Geschichte zwar zunächst aus der Sicht des Jungen einer der Frauen, der im Haus aufgewachsen ist, doch sie gibt auch ihren Darstellerinnen viel Raum. Zegiraj lässt sie Darstellerinnen fluchen, schreien, lachen, schimpfen, was das Zeug hält - ein eindringliches, dicht erzähltes Kammerspiel.

Eine Nacht auf dem Revier

Alban Ukaj spielt in "Full Moon" ("Pun mjesec") mit stoischer Genauigkeit einen sehr ambivalenten Polizisten. Wortlos bringt er seine Frau, die am Ende ihrer Risikoschwangerschaft steht, ins Krankenhaus, und muss gleich wieder aufbrechen: Es gibt keinen Ersatz für ihn in der Nachtschicht auf dem Revier. Dort nimmt er manche Gefangene mit körperlicher Gewalt hart ran, zeigt aber auch eine moralischere Seite: Mit der Bestechlichkeit seiner Kollegen soll nun Schluss sein.

Zusätzlich zieht Regisseur Nermin Hamzagić noch eine mysteriöse Ebene ein: In den Kellergängen des Reviers begegnet der Polizist immer wieder einem geheimnisvollen Jungen in gelbem Regenmantel. Doch der Film wird nie zum Horrordrama, er bewahrt sich eine vieldeutige Offenheit.

Auch Nermin Hamzagić ist übrigens, wie Teodor Kuhn, Lendita Zeqiraj, Lyubov Borisova und Antonio Lukich, ein Regiedebütant. Wenn es dem Filmfestival Cottbus auch im kommenden Jahr gelingt, für den Wettbewerb so viele neue Talente aufzutun wie in diesem Jahr, dann muss man sich um die Qualität der Jubiläums-Ausgabe, der 30., wirklich keine Sorgen machen.

Sendung: Antenne Brandenburg, 09.11.2019, 21:00 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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