Theaterkritik | "Die Wiedergutmachung" - Beklemmung im Saal

Sa 30.11.19 | 10:50 Uhr | Von Vera Block
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Dorothea Krüger (Quelle: rbb/Vera Block)
Audio: rbbKultur | 29.11.2019 | Vera Block | Bild: rbb/Vera Block

Von den Nationalsozialisten wurden sie zur Arbeit gezwungen, doch jahrelang lehnte die Rentenversicherung die meisten Anträge von Ghettoarbeitern ab. Das Stück "Die Wiedergutmachtung" erzählt vom Kampf um die sogenannten Ghetto-Renten. Von Vera Block

Auf der dunklen Bühne in der Berliner Werkstatt der Kulturen stehen zwei Menschen. Hinter ihnen - wie von einer Kinderhand an die Schultafel geschrieben - sind zwei Worte an die Wand projiziert: Richter und Zeuge. Richter: "Wann genau begann und endete die Beschäftigung im Warschauer Ghetto?" Der Zeuge kann keine genauen Angaben machen. "Die Zeit war für uns nicht wichtig", sagt er. Die Fragen werden immer mehr: "Gab es Entscheidungsfreiheit bei der Wahl der Arbeit? Hat man dafür nur Suppe oder auch Geld bekommen? Hätte man nicht auch mal nein sagen können?"

Der alte Mann stützt sich auf seinen Stock. Er ist sichtlich verzweifelt. Zermürbt von der deutschen Bürokratie. Alles, was er aus seiner Kindheit im Ghetto vorweisen kann, ist sein gelber Judenstern aus Stoff. Nun steht er aber als Zeuge vor Gericht, um zu beweisen, dass er Anspruch auf Rente in Deutschland hat.

Viele Grautöne

Das Theaterstück "Die Wiedergutmachung" setzt die Geschichte der sogenannten Ghetto-Renten schwarz-weiß ins Szene: schwarze Bühne, weißes Licht. Dazwischen aber: viele Grautöne, wohl als Symbol der vielen unklaren Schicksale junger Zwangsarbeiter zur Nazizeit. Als die Autorin und Regisseurin Monika Dobrowlanska vor einigen Jahren von den langwierigen und meist erfolglosen bürokratischen Verhandlungen um Rentenbewilligungen erfuhr, war sie schockiert: "Wenn ich das den Leuten erzählt habe, haben sie gedacht, dass es vielleicht vor 30, 40 Jahren passiert wäre."

Ein Richter lehnt sich gegen das System auf

Doch die Geschichte um die Verhandlungen der Ghetto-Renten-Anträge, die meist aus Israel geschickt wurden und zu mehr als 90 Prozent abgelehnt wurden, ist nur etwa zehn Jahre alt. Und auch die Geschichte von Jan-Robert von Renesse, der von der deutschen Justiz und den Rentenbehörden unter Druck gesetzt wurde.

Anstatt die Anträge schnöde abzulehnen, ließ Jan-Robert von Renesse - damals Richter am Sozialgericht in Nordrhein-Westfalen in Essen - historische Gutachten erstellen. Er reiste nach Israel zu Zeugenbefragungen und erreichte so, dass die Renten in über 60 Prozent der Fälle bewilligt wurden.

Bald darauf erlebte von Renesse eine Welle der Anfeindungen und Widerstände seitens seiner eigenen Behörde. Er wurde von den Ghetto-Rente-Fällen abgezogen und geriet selbst in Konflikt mit der Justiz, wegen – so die Anklage - Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit. Das Verfahren wurde erst nach zwei Jahren eingestellt. Für sein Engagement wurde Jan-Robert von Renesse mehrfach ausgezeichnet

Vadim Grabowsky (Quelle: rbb/Vera Block)

Kindheitserinnerungen und Gerichtsbefragungen

Für ihr dokumentarisches Theaterstück griff die Regisseurin Dobrowlanska auf die frei verfügbaren Akten und private Archivmaterialien und Aufnahmen zurück. Sie suchte auch Kontakt zu Nachfahren und Anwälten von Menschen, die Ghetto-Renten-Anträge gestellt hatten. Es entstand ein mehrschichtiges Gebilde, in dem die Kindheitserinnerungen der Ghettoüberlebenden sich mit den Rückblenden auf die Gerichtsbefragungen verweben. Eine lyrische Note bekommt die Aufführung, wenn neben den Zeitzeugenberichten auch Texte aus Tadeusz Borowskis "Bei uns in Auschwitz"  und Marek Edelmanns "Eine Liebe im Ghetto" in das Geschehen einfließen. In einem zweiten Erzählstrang geht um die Geschichte von Richter Jan-Robert von Renesse.

Eine Schlüsselszene des Theaterstücks stellt den unmittelbaren Bezug zwischen der Kinderarbeit in den Ghettos und dem Wohlstand der deutschen Nachkriegsgesellschaft her. Gespielt wird sie von Kindern – in etwa so alt wie damals die vielen jungen Arbeiter in den Fabriken und KZs des Dritten Reichs. "Können noch Zeugen für die Arbeitszeiten in Ghetto benannt werden?", fragt die Richterin, und die Kinder rufen die Namen großer deutscher Unternehmen auf: "Astrawerke! Ostindustrie GmbH! AEG! Neckermann!"

Szene aus "Die Wiedergutmachung" (Quelle: rbb/Vera Block)

Fokus auf die Zeitzeugen

Das karge Bühnenbild, die Zeichnungen des Berliner Künstlers Yukihiro Ikutani, die live auf die Rückwand projiziert werden, alte Filmaufnahmen und die durchdringende Live-Musik des polnischen Geigers Adam Baldych sorgen für Beklemmung im Saal. Die Stimmen der Schauspieler, die mit russischem und polnischem Akzent sprechen, unterstreichen den dokumentarischen Charakter des Theaterstücks. Regisseurin Dobrowlanska war es wichtig, den Fokus des Stücks auf die Zeitzeugen zu legen, auf ihre Geschichten als Kinder in den Ghettos und dann 70 Jahre später als Antragsteller vor einem deutschen Sozialgericht: "Man muss mit ihnen zusammen durch diese Hölle gehen, um zu verstehen, wofür sie überhaupt die Wiedergutmachung erwarten."

Sendung: rbbKultur, 29.11.2019, 18.50 Uhr

Beitrag von Vera Block

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  1. 1.

    Mein Dank geht an Vera Block und den RBB für diesen, für mich auch sehr beklemmenden, verstörenden Beitrag. Davon habe ich nie etwas gewusst.

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