Jahresrückblick | Berliner Theater-Highlights - Das waren die fünf besten Theaterabende 2019

Do 19.12.19 | 13:25 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Collage Theaterrückblick 2019 ( Quelle: Willli Minke/Julian Baumann/Eike Walkenhorst)
Bild: Willli Minke/Julian Baumann/Eike Walkenhorst

Zwei extrem lange Inszenierungen gehörten zu den Highlights des Berliner Theaterjahres. Aber auch knackigere Arbeiten - und auffällig wenig Berliner Eigengewächse. Ein persönlicher Jahresrückblick von Fabian Wallmeier

2019 war kein herausragendes Theaterjahr für Berlin. Über weite Strecken regierte das Mittelmaß – und einiges ging richtig schief. Der zuvor eigentlich so verheißungsvoll klingende Interims-Neustart an der Berliner Volksbühne enttäuschte weitgehend. Weder das an seiner eigenen Weitschweifigkeit erstickte Debüt des neuen Schauspieldirektors Thorleifur Örn Arnarsson, "Eine Odyssee", noch Kay Voges' erstaunlich flache Social-Media-Kritik "Don't Be Evil" konnten überzeugen. Aber noch haben Intendant Klaus Dörr und sein Team ja anderthalb Jahre Zeit für spannende Neuerungen – bis dann im Sommer 2021 René Pollesch übernimmt.

Auch am Berliner Ensemble lief nicht alles glatt. Das vom Intendanten Oliver Reese ins Leben gerufene Autoren-Programm, dem schon im Vorjahr sein Leiter Moritz Rinke abhandengekommen war, lieferte nun die ersten beiden Ergebnisse – und beide gingen daneben. Mit "Kriegsbeute" lieferten die vom Film kommenden Martin Behnke und Burhan Qurbani in ihrem Theaterdebüt ein holzschnittartiges Porträt einer Waffenhändlerfamilie ab, dem auch Laura Linnenbaum als Regisseurin kein Leben einzuhauchen vermochte. Der zweite Text aus dem Programm kam dann noch nicht einmal zur Uraufführung: "Amir" von Mario Salazar wurde so stark bearbeitet, dass es am BE nun mit der ungewöhnlichen Autorenzeile "nach Motiven des Dramas von Mario Salazar – Bearbeitung von Nicole Oder und Ensemble" läuft. Dass ausgerechnet ein Text, der in dem Autoren-Programm eines Theaters entstanden ist, dort letztlich gar nicht zur Aufführung kommt, ist schon bemerkenswert.

Aber genug von den unerfreulicheren Erlebnissen, denn es gab sie ja trotzdem: die großen Theater-Highlights des Jahres.  Bei den fünf für mich besten Theaterabenden, die 2019 in Berlin zu sehen waren, fällt allerdings vor allem auf: Viele von ihnen waren keine Berliner Produktionen. Von den fünf herausragenden Inszenierungen kommt eine aus München,  eine aus New York und eine aus Gent (und war später als Koproduktion in Berlin zu sehen). Originäre Eigenproduktionen von Berliner Häusern aber sind nur zwei meiner liebsten fünf.

"Dionysos Stadt": Antiken-Sause sprengt den Rahmen

Das Theater-Highlight des Jahres etwa ist eine Produktion der Münchner Kammerspiele und war in Berlin im Mai beim Theatertreffen zu sehen: "Dionysos Stadt". Christopher Rüpings fast zehnstündige Antiken-Sause sprengte den Rahmen des ansonsten im Stadttheater Üblichen – und räumte so ziemlich jeden Preis ab, den man bekommen kann: Bei der Kritikerumfrage von "Theater heute" wurde es als Inszenierung des Jahres geehrt, Nils Kahnwald als Schauspieler des Jahres und Gro Swantje Kohlhof als Nachwuchsschauspielerin des Jahres. Beim österreichischen Nestroy-Preis wurde "Dionysos Stadt" zudem als "beste Aufführung im deutschsprachigen Raum" ausgezeichnet.

All diese Ehrungen sind vollkommen verdient – denn was Rüping und sein Ensemble in den zehn Stunden anstellen, ist so vielgestalt und von einer so gemeinschaftsstiftenden Kraft, wie man es nur selten im Theater zu sehen bekommt. Rüping will einen dionysischen Rausch entstehen lassen. Die vier Teile – drei Tragödien und ein Satyrspiel – sind der antiken Theatertradition entnommen und umrahmt von Pausen, in denen weiß gewandete Helfer Snacks und später Wodka reichen und die Kassenhalle des Berliner Festpielhalle zum Dancefloor wird. Und in der Hauptsache, also zwischen den Pausen, ist Regietheater der Extraklasse zu sehen: Von Nils Kahnwalds witzigem, mitreißendem, weitschweifigem Monolog, mit dem er das Publikum zu Beginn auf die zehn Stunden einschwört, bis zum finalen Moment schönster Melancholie. Ein Theatertag, den ich im Januar in München und dann im Mai noch mal in Berlin gesehen habe – und der noch Monate später intensiv in mir nachschwingt.

Taylor Mac: Queere Gegenerzählung in 248 Songs

Wem zehn Stunden Theater nicht reichten, der konnte im Oktober im Haus der Berliner Festspiele eine 24-stündige Show erleben – allerdings verteilt auf vier sechsstündige Abende. Taylor Macs "A 24-Decade of Popular Music" erzählt in 24 Stunden mit 248 Songs 24 Jahrzehnte US-Geschichte – von 1776 bis heute.

Die vier Abende sind aber keine Geschichtsstunde, sondern ein großes Mitmach- und Mitfühl-Spektakel – und vor allem ein Manifest queerer Gegenerzählung. Musiker*innen und Performer*innen aus New York und Berlin feiern zusammen mit dem von Abend zu Abend gelösteren Publikum jene Aspekte der Geschichtsschreibung, die sonst an den Rand gedrängt werden. Im Mittelpunkt steht Taylor Mac selbst. Als Sänger und Conférencier der 24 Stunden hat er eine geradezu überirdische Präsenz, einen Witz und ein Durchhaltevermögen ohnegleichen. Wer das verpasst hat - Pech gehabt, denn ein zweites Mal wird dieses Spektakel ziemlich sicher nicht nach Berlin kommen.

"Lear": Frei, assoziativ, bewegend – und dann ein Wahnsinns-Monolog

Ausufernd geht auch Sebastian Hartmann zu Werk. Doch er ist - anders als Mac und Rüping -  überhaupt nicht darauf aus, sein Publikum zu umarmen. Er will es reizen, fordern, auch überfordern. Hartmanns neueren Inszenierungen bilden keine feste Handlung ab. Sie haben einen festgelegten Anfang und ein festgelegtes Ende – und dazwischen ein Repertoire an Szenen, aus dem der Abend jedes Mal aus dem Moment heraus neu entsteht. Manche empfinden das als Zumutung: Ein Hartmann-Abend ohne das Türenknallen empörter Zuschauer, die frühzeitig herausstürmen, ist kein richtiger Hartmann-Abend.

Das gilt auch für "Lear" am Deutschen Theater (der meiner Kollegin Ute Büsing deutlich weniger gefallen hat als mir). Gut zwei Stunden lang befasst sich das Ensemble sehr weitschweifig mit Motiven des Shakespeare-Dramas. Krankenhausbetten werden über die abgesehen von einem gigantischen Windrad ansonsten fast leere Bühne geschoben. Es geht um das Siechtum, den Tod und die Frage nach dem Vererben und Hinterlassen – frei, assoziativ und tief bewegend, wenn man sich davon freimacht, alles verstehen und gedanklich zu einer Erzählung zusammenfügen zu wollen. Doch was am Ende folgt, hat man so von Hartmann noch nicht gesehen. Plötzlich setzt sich Cordelia Wege an die Rampe und beginnt den Monolog des Jahres: Die Inszenierung mündet ohne Pause in der gut halbstündigen Uraufführung von Wolfram Lotz' "Die Politiker", einem stark rhythmisierten Wahnsinnstext, der auch diejenigen mit dem Abend versöhnen dürfte, die vorher noch das empörte Türenknallen erwogen hatten.

"De Living": Beklemmendstes Theatererlebnis des Jahres

Von Ersan Mondtag gab es in diesem Jahr in Berlin gleich drei neue Inszenierungen zu sehen: Am Berliner Ensemble inszenierte er Brechts "Baal", am Gorki zeigte er Sibylle Bergs "Hass-Triptychon". Die dritte Arbeit aber war die mit Abstand beste – und kam nicht aus Berlin. "De Living" entstand an Milo Raus NT Gent, lief dann unter anderem in Brüssel, bevor sie im Juni am koproduzierenden Berliner HAU zu sehen war.

Der Abend lässt sich als politische Auseinandersetzung mit dem belgischen Kolonialerbe lesen, vor allem aber funktioniert er über die ganz unmittelbare Erfahrung tiefer menschlicher Tragödie, die zunächst in klinisch-distanzierter Form daherkommt: Die Schwestern Doris und Nathalie Bokongo Nkumu spielen zwei Versionen einer Frau, die ihre letzte Stunde verlebt. Die in der Mitte gespiegelte Bühne besteht aus zwei Küchen, in denen die Zeit mal versetzt, mal parallel, mal rückwärts gegeneinander verläuft. Mondtag arbeitet fast ohne Sprache, aber umso stärker mit anderen Mitteln: Das für seine Verhältnisse ungewohnt kühl-modernistische Bühnenbild bleibt genauso stark in Erinnerung wie die Sounds und nicht zuletzt die Gerüche, die den Abend begleiten. Der sich ausbreitende Gasgeruch, der aus dem Backofen strömt, trägt mit dazu bei, dass dieser Abend mir als einer der intensivsten und mit Sicherheit als der beklemmendste des Jahres in Erinnerung bleiben wird.

Pollesch im Friedrichstadt-Palast: Schluss mit E oder U!

Leichter, aber keineswegs leichtgewichtiger war die wohl am meisten erwartete Theaterproduktion des Jahres: René Pollesch inszenierte erstmals im Friedrichstadt-Palast. "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt" schert sich einen Dreck um vermeintliche Gräben zwischen E und U – und wagt stattdessen eine respektvolle Annäherung von hochkulturellem Sprechtheater und Revue-Show. Fabian Hinrichs und 27 Mitglieder des Tanz-Ensembles nehmen die riesige Bühne in Beschlag. Mit ihnen zusammen testet Pollesch im Bühnenbild der Show "Vivid" aus, was mit den Mitteln des Hauses so alles möglich ist - mal mit ironischer Distanz, mal beiläufig, mal mit geradezu kindlicher Freude an der Maschinerie.

Bei allem Pomp, den der Friedrichstadt-Palast zu bieten hat, bleibt aber am Ende eine bittersüße Melancholie zurück. Denn obwohl der Abend natürlich reich am typisch verschraubten Pollesch-Witz ist: Im Kern ist er so unheiter und traurig wie schon lange kein Pollesch-Abend mehr.

Beitrag von Fabian Wallmeier

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