Veranstaltungskritik | Buchvorstellung "Unser West-Berlin" - Geschichten über das abhandengekommene West-Berlin

Do 19.12.19 | 10:03 Uhr
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Westberlin, Kronprinzenufer, Foto 1980 (Quelle: dpa/Langenheim)
Bild: dpa/Langenheim

Bandenkriminalität, haarsträubende Bauskandale, spontane Besetzungen im öffentlichen Raum - alles keine neuen Erscheinungen in Berlin. Bei der Vorstellung von "Unser West-Berlin" lesen Autoren Anekdoten aus der Drei-Sektoren-Stadt. Von Wilhelm Klotzek

Es ist fast schon ein Mysterium, das alte West-Berlin. In den vergangenen Monaten wurde man überschüttet mit visuellen Eindrücken wie es denn damals war, vor 30 Jahren in Ost-Berlin, wie es dort aussah und wie es zum Fall der Mauer kommen konnte. Und so geschieht es, dass die Perspektive der West-Berliner Inselbewohner fast schon in den Hintergrund gerät.

Doch es lohnt sich, sich ein Bild davon zu machen, gerade um vielleicht auch zu verstehen was Berlin heute ist. Zum 30. Jubiläumsjahr des Mauerfalls erscheint im Berlinica-Verlag eine Publikation unter dem Titel: "Unser West-Berlin". Die Herausgeberin Eva C. Schweitzer versammelt an dieser Stelle äußerst interessante Erzählungen verschiedenster Protagonisten aus der Mauerstadt. Diese zeichnen ein unterhaltsames Bild des Westteils der ehemaligen Frontstadt.

Kerzengruß nach Ost-Berlin

Es ist brechend voll am Mittwochabend. Zwanzig Minuten vor Beginn der Veranstaltung gibt es nur noch Stehplätze im hinteren Teil des Raumes. Der Buchhändlerkeller befindet sich im Erdgeschoss eines sanierten Gründerzeithauses unweit der Hardenbergstraße. Schwarzer Pirelli-Noppenboden, Raufasertapete, weiß getünchter Stuck, an den Wänden Grafiken von Gerhard Altenbourg - mehr Literaturhaus geht kaum.

Nach einer kurzen Einleitung der Herausgeberin tritt die in West-Berlin geborene Autorin Kerstin Schilling ans Lesepult. Sie schildert in "Weihnachten in West-Berlin" ihre Kindheitserinnerungen von überfüllten Postämtern am Bahnhof Zoo, in denen sich tumultartige Szenen abspielten, da alle Kunden ihre Weihnachtspakete und -päckchen fast gleichzeitig in der Adventszeit in die "Zone" schicken wollten. Oder vom Kerzengruß, der am Heilig Abend nach Ost-Berlin hinüber leuchten sollte. Indem man eine Kerze in sein Fenster stellte wollte man dem Ostteil der Stadt zeigen, dass man ihn nicht vergessen hatte.

Die schöne Sigi und Texas-Willy

Der Berliner Autor Paul F. Duwe liest aus seinem Beitrag "Die schöne Sigi", in dem es hauptsächlich um die Frau des ehemaligen Kreuzberger Bezirksbürgermeisters "Texas-Willy" und ihre Machenschaften als Bauunternehmerin und Architektin bei der Errichtung des Steglitzer Kreisels geht. Duwe beschreibt anhand des aus dem Ruder laufenden Bauvorhabens die West-Berliner Gesellschaft und deren Größenwahn. Genährt durch üppig sprudelnde Subventionen der Bundesregierung für das "Schaufenster der freien Welt".

Und während man aufgrund der Beschreibung dieser surrealen Begebenheiten zusammen mit dem Publikum lacht, kommt man nicht umhin, Parallelen zu heutigen Situationen zu ziehen.

Besetzungen von Grünflächen im Grenzgebiet

Michael Sontheimer berichtet bei seinem kurzen Vortrag aus "Otto Schwanz und der Bausumpf" von dem Berliner Ganoven und Bordellbesitzer Otto Schwanz und seinen Tätigkeiten als Schmiergeldeintreiber für den damaligen CDU-Baustadtrat Antes. Sowie über den illegalen Schnapsschmuggel von über 20.000 Flaschen Doppelkorn aus der DDR, den Schwanz organisierte und die dann allesamt, an der Steuer vorbei, in West-Berliner Kehlen landeten.

Martina Schrey, damals junge Journalistin, liest aus "Kubat im Niemandsland". Sie beschreibt ihre Erlebnisse bei der spektakulären Besetzung des wilden Grünflächen-Biotops Lenné-Dreieck im Grenzgebiet am Potsdamer Platz durch linksalternative Gruppen. Aufgrund unklarer Zuständigkeiten seitens der Behörden konnte die Fläche erst einige Wochen später geräumt werden. Die bedrängten Besetzer flohen in großer Zahl über die Mauer und wurden dort von der Volksarmee empfangen, welche sie dann, nach einem Frühstück mit der Staatsicherheit, wieder zurück in den Westteil der Stadt entließ.

Flucht aus "Wessiland" ins geistig befreite Berlin

Es folgen an diesem Abend noch weitere Ausführungen der teilnehmenden Autoren über die Flucht aus "Wessiland" ins geistig befreite West-Berlin, die Erinnerung ans "Nichts tun" und die äußerst dubiosen Versuche der Bundeswehr, doch noch an die Wehrdienstverweigerer zu kommen. Den Eindruck einer Wehmütigkeit um das abhandengekommene West-Berlin vermittelt die Zusammenstellung eher nicht, denn gerade Textbeiträge wie von Rosa von Praunheim zeigen auch auf, wo das tolerante West-Berlin seine Grenzen hatte. Man kann die Veröffentlichung vielleicht als Kommentar verstehen, der dazu beiträgt, Berlin als Stadt zu sehen, die sich im ständigen Wechsel befindet, manchmal an Größenwahn leidet aber doch jedem noch so merkwürdigen Gewächs eine Tür offen hält.

Sendung: Inforadio, 19.12.2019, 06:50 Uhr  

Das Buch "Unser West-Berlin - Lesebuch von der Insel" ist bei Berlinica erschienen. 21 Autoren kommen zu Wort. Das Cover hat der Künstler Gerhard Seyfried gestaltet.

1 Kommentar

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  1. 1.

    Das stimmt leider, jetzt haben wir hier ja auch die Linken im Senat.

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