Theaterkritik | "Maria" im Gorki - Nicht unbedingt inspirierend, aber wohlig unterhaltend

So 16.02.20 | 09:42 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Elena Schmidt, Cigdem Teke und Vidina Popov, v.l., während der Fotoprobe zu Maria im Maxim Gorki Theater Berlin am 12.02.2020 (Quelle: imago images/Martin Müller)
Bild: imago images/Martin Müller

In "Maria" kämpft sich eine schwangere 18-Jährige als Camgirl durchs Leben. Nurkan Erpulat hat Simon Stephens eher schwachen Text im Berliner Gorki rasant inszeniert - und mit Vidina Popov in der Hauptrolle grandios besetzt. Von Fabian Wallmeier

"Kacken eigentlich alle", will Maria, genannt Ria (Vidina Popov), wissen. Sie ist 18 und schwanger und hat viele Fragen und Ängste; will wissen, was bei einer Geburt alles passiert. Der Arzt (Till Wonka) kann kaum antworten, das ist sie schon beim nächsten Thema.

Ria ist wild entschlossen, es allein im Leben zu schaffen. Sie ist blitzgescheit, aber so naiv, wie man das mit 18 nun mal ist - und sie hat es nicht leicht im Leben: Ihre Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, der geliebte Bruder kurz darauf von der Bildfläche verschwunden. Der Vater lebt wie Ria von schlecht bezahlter Hilfsarbeit und weiß nicht so recht mit Ria umzugehen. Auch die sterbenskranke Oma hört ihr, so liebevoll sie auch sein mag, eigentlich nicht richtig zu. Es ist aber auch weiß Gott nicht einfach, all ihren Ausführungen über ihre neuesten Lieblingsdokus und den vielen Gedankensprüngen zu folgen.

So farbenfroh wie trist

Es gibt einen plötzlichen Bruch in "Maria" von Simon Stephens, das am Samstag in der Inszenierung von Nurkan Erpulat am Berliner Gorki Premiere gefeiert hat. Da wechselt diese Ria ihren Job - die ehemalige Aushilfe im Fitnesscenter wird unter dem Namen Christine ein Camgirl in einer Art virtuellem Chatroom. An dieser Stelle kippt im Gorki die graue Wand, die bisher das einzige Bühnenbildelement war (Bühne: Magda Willi), langsam nach vorn - und Rias Jugendzimmer, das auf der Rückseite der Wand montiert war, kommt zum Vorschein.

In diesem so farbenreichen wie tristen Einheitszimmer sitzen nun die sechs Darstellenden des Abends in unterschiedlichen Konstellationen und führen (ohne sich anzuschauen, denn eigentlich sitzen sie ja alle ganz anonym irgendwo anders auf der Welt) Dialoge, die so gar nicht zu diesem Ikea-Jugendtraum passen wollen. Ria/Christine trifft etwa auf einen einsamen alten Ex-Polizisten; auf einen geilen Bock, der sie bedrängt; und auf eine alleinerziehende Mutter aus Eritrea, die einfach nur mal wieder von jemandem angesehen werden möchte.

Nicht das stärkste Stück des Autors

Am Ende des immer pädagogischer werden Stücks steht dann zum einen die Erkenntnis, dass diese virtuelle Welt ganz schön viel falsche Nähe herstellt. Zum anderen lernen wir, dass die Vorstellungskraft, online wie offline, ein enorm wichtiges Gut sei. "Wir können an Dinge glauben, die nicht real sind", sagt Ria.

Der in Berlin in jüngster Zeit seltsamerweise nicht allzu häufig gespielte britische Dramatiker Simon Stephens hat schon weitaus stärkere, deutungsoffenere Texte geschrieben als diesen, den multinationalen Thriller "Three Kingdoms" zum Beispiel. In "Maria" dagegen ist nun etwa die Darstellung der virtuellen Realität als der vermeintlich besseren, in die sich alle Wünsche projizieren lassen, von der aber letztlich nichts zurück kommt, schon sehr holzschnittartig gezeichnet. Auch die soziale Not des Prekariats ist schon präziser gezeichnet worden als hier.

Till Wonka und Vidina Popov während der Fotoprobe zu Maria im Maxim Gorki Theater Berlin am 12.02.2020. (Quelle: imago images/Martin Müller)

Noch eine überzeugende Gorki-Nachwuchskraft

Aber Nurkan Erpulat lässt sein Ensemble so schnell über den Text hinwegfegen, dass auch die schwächeren Passagen funktionieren. In kaum mehr als anderthalb Stunden spielt er das Stück runter - bei der Uraufführung durch Erpulats Gorki-Hausregisseur-Kollegen Sebastian Nübling in Hamburg dauerte es eine halbe Stunde länger. Den ersten Teil inszeniert Erpulat so eilig, dass teilweise kaum noch zu verstehen ist, was da eigentlich gesagt wird. Till Wonka etwa gibt den sich beim Sprechen fast überschlagenden Arzt als Karikatur eines Speed-Trips.

Vor allem aber hat gerade einmal zwei Wochen nach Svenja Liesaus Gala-Auftritt als Hamlet schon wieder eine Gorki-Nachwuchskraft die Gelegenheit zu strahlen: Vidina Popov spielt Ria in all ihren widersprüchlichen Facetten mit Leib und Seele. Sie hat die aufgeregte Dampfplauderei ebenso drauf wie die tiefe Verunsicherung. Der kundengerechten Anpassungsfähigkeit ihrer Figur im Chatroom verleiht sie eine zusätzliche Ebene, indem sie hinter Christines so echt wirkenden Einfühlsamkeiten die Ängste und Hoffnungen Rias durchschimmern lässt.

Nicht der tiefste, klügste Gorki-Abend

Auch wenn die Chatroom-Passage wieder sehr rasant von einem Gespräch ins andere springt: Gänzlich auf Geschwindigkeit hat Erpulat den Text nicht inszeniert. Nach dem atemlosen Schnellsprech-Einstieg lässt er mit der Zeit immer mehr Atempausen zu, bei denen vor allem Gorki-Gast Ibadet Ramadani Gallop in Erscheinung tritt. Sie singt herzerweichend schön Pop- und Jazz-Songs, aber auch Dialogpassagen ihrer kleinen Nebenrollen - was die teilweise harten Ansagen der Figuren mal irrealer, mal umso echter wirken lässt.

"Maria" ist sicher nicht der tiefste, klügste Abend, den es im Gorki zu sehen gibt. Aber anderthalb rasante, gut gemachte Stunden voller Melancholie und Spielfreude muss man auch erst einmal hinbekommen. Man verlässt das Theater nicht unbedingt inspiriert, aber doch wohlig unterhalten.

Und um auf die Eingangsfrage mit dem Kacken zurückzukommen: "Das ist nicht ungewöhnlich", antwortet der Arzt - und schiebt dann schnell hinterher: "Wobei das vielen Müttern eher egal ist, weil sie sich auf andere Dinge konzentrieren." 

Sendung: Inforadio, Der Morgen, 17.02.2020, 6.00 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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