Theaterkritik | Virtuelles Festival "Radar Ost" am DT - Fast, aber eben nicht ganz vertraut

Mo 22.06.20 | 06:13 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Aufnahme von der Bühnenaufführung von <<Queendom>> von der Regisseurin Veronika Szabó. (Quelle: deutschestheater.de/R. Robert)
Bild: deutschestheater.de/R. Robert

Das Deutsche Theater Berlin hat das Osteuropa-Festival "Radar Ost" in eine virtuelle Version des Hauses verlegt. Statt Gastspielen gab es eigens erstellte Digital-Varianten der eingeladenen Inszenierungen. Ein spannendes Wochenende. Von Fabian Wallmeier

Ein Klick und man betritt das Deutsche Theater Berlin. Nicht das echte natürlich, denn das ist in Corona-Zeiten für das Publikum geschlossen. Doch das Digitaltheater-Duo Cyber-Räuber hat für das Osteuropa-Festival "Radar Ost" das DT virtuell nachgebaut. So steht man nun im Spiegelfoyer, klickt sich weiter in die Kammerspiele, hoch in die Ränge, aber etwa auch in die Garderoben und in den Keller.

Die virtuellen Räume sind keine fotorealistischen Abbildungen der echten, sondern mit grobem, rundem Strich weichgezeichnete Filter-Versionen. Ein Gefühl des fast, aber eben nicht ganz Vertrauten stellt sich ein. In diesen virtuellen Räumen sind die Streams abrufbar - manche nur live zu bestimmten Zeiten, andere das ganze Wochenende über.

Im virtuell verfremdeten Spiegel-Foyer etwa erscheint nach dem Klick auf dem Play-Button das - nun ja - echte Spiegelfoyer. Zum getragenen "Lacrimosa" aus Zbigniew Preisners "Requiem for My Fried" erscheinen nach und nach nackte Frauen in zunächst unbewegten Posen. Später werden in einer digitalen Collage Augen auf ihre Körper montiert - so schauen den Betrachter nun von den Körperstellen, die er begafft, diese Augen direkt zurück an.

"Queendom"
heißt dieses Tableau, das die ungarische Regisseurin Veronika Szabó statt eines Gastspiels für das Festival entworfen hat. Es wird ergänzt mit einem Monolog in der virtuellen Künstlergarderobe. Die Schauspielerin Sarah Günther spricht dort den Betrachter direkt an, bittet ihn anständig zu bleiben. Sie rückt ihm und seinem voyeuristischen Blick von vorhin im Spiegelfoyer nun mit Worten zu Leibe, reflektiert Körperwahrnehmungen, aber auch die Corona-Situation. "Ich erkenne mich selbst nicht mehr", sagt sie am Ende.

Digitale Kurzvarianten statt Gastspielen

Kuratorin Birgit Lengers hat für die virtuelle Ausgabe des Festivals "Radar Ost", das seit einigen Jahren den Auftakt zu den Autorentheatertagen am DT bildet, explizit Autorinnen und weibliche Regiestimmen aus Osteuropa eingeladen. Die digitalen Kurzvarianten der fünf Arbeiten lassen erkennen, was für ein vielstimmiges Theatererlebnis sie in Berlin hätten bieten können. Aber auch was nun im virtuellen Raum davon zu sehen ist, ist größtenteils spannend.

In "Macocha" von Petra Hůlová reflektiert eine fünfgeteilte Frauenfigur bitter, aber kraftvoll ihre Kämpfe als Intellektuelle und Mutter. "Is this the real life? Is this just phantasy", singen die fünf am Anfang der Inszenierung von Kamila Polívková den Anfang aus Queens "Bohemian Rhapsody" - ihre Köpfe sind dabei gruppiert und beleuchtet wie in dem berühmten Musikclip zum Song.

Aufnahme von der Bühnenaufführung. Kamila Polívkovás Inszenierung <<Macocha>>. (Quelle: deutschestheater.de/M. Sobotkova)
Bild: deutschestheater.de/M. Sobotkova

"28 Tage" aus Moskau (von Olga Shilyaeva, Regie: Svetlana Mikhalishcheva und Yuri Muravitsky) ist weniger eine eigens erstellte digitale Adaption, sondern vielmehr die gekürzte Aufzeichnung einer Aufführung vor Publikum. Das Stück ist (abgesehen vom düstereren Ende) ein deftiges satirisches Loblied auf die Weiblichkeit, den weiblichen Körper und die sexuelle Selbstbestimmung. In einem chorischem Wechselspiel zwischen Opern-Rezitativ, Skandieren und liturgischem Singsang beschwören die Schauspielerinnen die Menstruation als Teil eines universellen Zyklus, der einzige Mann auf der Bühne kommt mit seinen verklemmt-patriarchalischen Einwürfen nicht durch.

Als männliches Gegenstück fungiert "Hooligan: In the Field". In dem dreiteiligen, teils als Making-of-Film angelegten Clip des Regisseurs Peter Cant reflektiert und konterkariert ein ukrainisches Kollektiv klassische männliche Rollenerwartungen. Wie das Ganze als Gastspiel auf der Theaterbühne ausgesehen hätte, lässt sich hier allerdings von allen eingeladenen Inszenierungen am wenigsten erahnen. Mit Abstrichen gilt das auch für "Bad Roads", ein Stück von Natalia Vorozhbit (Regie: Tamara Trunova), das in sechs Szenen den Krieg in der Ukraine verhandelt. Drei davon sind im virtuellen Keller des DT in Trailer-Form zu sehen, die nicht für sich stehen, sondern vor allem Lust machen auf die eigentliche Produktion, die in Berlin nun nicht zu sehen ist.

Bild aus <<hooligan in the field>> von Peter Cant. (Quelle: deutschestheater.de/M. Quariltod)
Bild: deutschestheater.de/M. Quariltod

Wer nicht pünktlich streamt, verpasst den Anfang

Die hinzu kuratierten Konserven-Streams dreier Inszenierungen aus Polen, Georgien und Russland (darunter eine Arbeit von Kirill Serebrennikov, der Russland nicht verlassen darf und für das DT - kurz vor den Corona-Einschränkungen - seine Variante des "Decamerone" aus der Ferne inszeniert hat wirken im Kontext des virtuellen Mehr-als-Ersatz-Programms eher unnötig. Aber immerhin verleihen sie dem Wochenende eine theaterübliche Struktur: Jeweils um 20 Uhr gibt es eine der Inszenierungen zu sehen. Wer den Stream nicht pünktlich einschaltet, hat den Anfang verpasst - fast wie beim Nacheinlass im echten Theater.

Dennoch bleiben die drei Streams, ihrer künstlerischen Qualität ungeachtet, kuratorische Krücken in diesem ansonsten so deutlich auf die besonderen Begebenheiten des Virtuellen ausgerichteten Programm. Spannender sind da die drei kleinen länderübergreifenden Kooperationen, die eigens für "Radar Ost" entstanden sind. "In dritter Person" zeigt die Berliner Performerin Gérôme Castell (am DT auch zu sehen in "Ugly Duckling") im Gespräch mit Nikolo Ghviniashvili aus Tiflis. Es geht um das Leben von Trans-Menschen, um ihren Kampf ums Sie-Selbst-Sein und ums nackte Überleben. Die Regisseur*innen Data Tavadze, Davit Gabunia und Sima Djabar Zadegan haben Castell dafür virtuell auf die Bühne des Royal District Theatre in Tiflis verpflanzt. Dort wandelt sie nun hin und her und erzählt, von Ghviniashvili auf Georgisch aus dem Off ergänzt, die melancholische, traurige, aber auch hoffnungsvolle Geschichte.

Analog wäre schon schöner

"Morph. Ein Wort-Konzert" ist eine Kollaboration des Berliner Kollektivs Neues Künstlertheater und TseSho aus Kiew. In Berlin entstand eine Collage aus gesprochenen Wörtern und Videoaufnahmen, die Kolleg*innen in Kiew spielten dazu Musik ein und filmten sich dabei. So werden nun 50 Minuten lang nicht nur Wörter ineinander gemorpht (aus "von der Leyen" wird allämählich erst "Frontline" und dann "Vorurteil", aus "Der nächste bitte" erst "die bittere Pille" und dann "Niesetikette"), sondern auch die Videoaufnahmen überlagern sich. Das Ergebnis sind 50 hypnotische Minuten in Schwarz-Weiß, irgendwo zwischen Ernst Jandl, Club und Installationskunst.

In "Kleines Requiem" von Valerij Pecheykin (Regie: Ilya Shagalov) nehmen die mit einem Blaufilter verfremdeten DT-Schauspieler*innen Regine Zimmermann und Helmut Mooshammer auf einer Couch Platz und plaudern über "die richtige Art zu leben" - und zu sterben. Zwei grünstichige Kolleg*innen von Serebrennikovs koproduzierendem Moskauer Gogol-Center werden mit ins Bild geschnitten. Auch sie erzählen Vignetten aus dem Leben und Sterben - und wie schnell alles vorbei einkommt. "Der Tod tritt ein", wird immer wieder eingeblendet - doch er ist in diesem bunten, schnellen und schnell realisierten Clip keine Bedrohung, sondern eher ein comichaftes Detail.

Noch ein Klick und man steht wieder auf dem Vorplatz des DT. Doch an der digitalen Getränkebude gibt es nichts zu kaufen. Manche Dinge sind eben auch durch ein virtuelles Wochenend-Event nicht zu ersetzen. Schöner wäre es schon, wenn "Radar Ost" 2021 wieder ganz analog im echten DT stattfinden könnte.

Beitrag von Fabian Wallmeier

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