Kritik: "Forever Yours" im Theater Strahl - Der junge Werther als Stalker

Das Berliner Jugendtheater Strahl hat ein Händchen für die Umdeutung klassischer Stoffe. Zur Saisoneröffnung hat es sich Goethes "Werther" vorgeknöpft. Der Roman wird mit Stalking unter Jugendlichen zu einem neuen Stück verknüpft: "Forever Yours". Von Ute Büsing
Werther leidet. Und das Publikum leidet auch erstmal mit diesem romantischen Schwärmer, der im Ideal der einen reinen Liebe schwelgt. Schließlich ist seine Lotte nachts mit ihm ins Freibad eingebrochen und sie hat einen unvergesslichen Abend mit ihm am See verbracht. Aber das nur, weil ihr eigentlicher Freund Albert im Ausland ist. Lotte mag Werther irgendwie. Er liebt sie bedingungslos – und unnachgiebig. Alles in ihm schreit nach Lotte, Lotte, Lotte. Tag und Nacht, in der Schule und bei einem Trip mit der Politik AG nach Brüssel.
Auslotung der Grauzonen der Grenzüberschreitung
In turbulenten zweimal 45 Minuten vor coronabedingt nur 40 statt der gewohnten 140 Zuschauer setzt das Theater Strahl Goethes sich selbst verlierendem Stürmer und Dränger eine eigenständige heutige Frauenfigur entgegen. Lottes Perspektive, ihr Leid, gewinnt Kontur, je mehr sich Werther mit allen Mitteln in ihr Leben drängt. Sie stalkt. Das nämlich ist der aktuelle Aufhänger des neuen Stücks, das die emotionale Essenz der klassischen Vorlage indes in den Knochen – und in Werthers Sprache - trägt.
"Forever Yours" hat Strahl-Dramaturgin Hannah Schopf in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle "Stop Stalking" entwickelt. Dass Stalking unter Teenagern immer häufiger vorkommt, belegten viele Fallbeispiele. Ausgelotet werden jetzt auf der Bühne des Jugendcentrums Weiße Rose in der Regie von Inda Buschmann die Grauzonen dieser Grenzüberschreitung. Wann kippen vermeintlich romantische Situationen ins Übergriffige, Bedrohliche? Wie wird aus Liebe Terror? Schließlich: Wie klar müssen Wahrnehmungsunterschiede artikuliert, Grenzen gesetzt werden? So wie Werther in seiner Sehnsucht nach Symbiose an der eigenen Realitätswahrnehmung zweifelt, tut es auch Lotte. Sie will den neuen Freund nicht verletzen, keinen rigiden Schlusspunkt setzen. Auch nicht, als ihr Albert längst aus dem Ausland zurückgekehrt ist und sich Werther immer noch mit allen Sinnen an sie klammert.

Vielstimmiger Kampf um die Deutungshoheit
Es ist das Verdienst dieser Inszenierung, aus dem sinnenverwirrten Werther keinen typischen Täter-Nerd zu machen. Darin besteht aber auch die Krux: der Typ, grundsympathisch dargestellt von Amos Detscher, ist total niedlich, knuddelig: "Mein Werther ist doch kein Stalker!", wie die Mutter sagt. Aber er überwacht die von Olivia Stutz in ihrer Ambivalenz gut getroffene Lotte mit Handy und sozialen Medien, textet sie zu, lässt sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Er wird übergriffig und akzeptiert kein "Nein". Gespiegelt werden auch landläufige Beschönigungsmanöver, die auch die Opfer von sexuellem Missbrauch kennen: Wird schon alles nur halb so schlimm sein, stell dich nicht so an … Damit wird das Opfer des Übergriffs in die Schuld-Falle gelockt.
Der Kampf um die Deutungshoheit über eine flüchtige Jugendliebe wird vielstimmig geführt. Das vierköpfige Ensemble mit Natascha Manthe als Werthers Busenfreundin Wilhelmine und Justus Verdenhalven als Lottes Freund Albert, zieht in leicht historisierenden Gewändern mit roten Gehröcken alle Register und mischt auch in der manchmal überlauten Band (Maroulita de Kol) mit. Es bespielt einen Kubus mit Schnüren, unter dem am Ende ein nacktes Metallgerüst freigelegt wird. Dieses Ende ist dann ganz anders als bei Goethe: Statt Selbstmord steht Selbstermächtigung. Cool.
Sendung: Inforadio, 23.09.2020, 06.55 Uhr