Künstlerinnen-Verein Endmoräne - Verlassen, verwunschen und wachgeküsst

Sa 24.10.20 | 19:19 Uhr | Von Michaela Gericke
<<UNTER STROM>> Sommerwerkstatt 2019 und Kunstausstellung von Endmoräne e.V. in der Ehemaligen Turbinenhalle am Stienitzsee, Berliner Str. 13A, 15378 Rüdersdorf bei Berlin. Arbeit von Dorothea Neumann. (Quelle: rbb/M. Gericke)
Audio: Inforadio | 21.10.2020 | Michaela Gericke | Bild: rbb/M. Gericke

Ladenlokale, Taubenschläge, Papierfabriken und Barockschlösser - 20 Künstlerinnen des Vereins Endmoräne verwandeln verwaiste Gebäude in Brandenburg in Kunstpaläste - und erwecken sie damit zu neuem Leben. Und zwar bereits seit 30 Jahren. Von Michaela Gericke

Angefangen hat alles mit der Künstlerin Erika Stürmer-Alex: Auf ihrem Kunsthof Lietzen im Oderbruch trafen sich bereits Ende der 1980er Jahre jeden Sommer Künstlerinnen, um frei und unbeobachtet zu experimentieren: In der bildenden Kunst wie in der Musik. "Dann kam die Wende und endlich wollten wir Kolleginnen von woanders einladen", erinnert sich die Erika Stürmer-Alex, die heute 82 Jahre alt ist. "Erstmal hat uns Westberlin interessiert, Westdeutschland, dann auch das Ausland, also haben wir einen Verein gegründet": Endmoräne – in dieser Landschaftsformation waren schließlich einige Frauen des Vereins zu Hause, andere kamen aus West- oder Ost-Berlin und dem restlichen Deutschland.

Erika neben Christiane Wartenberg letzte Reihe zweite von links, genau vor Erika Stürmer-Alex Dorothea Neumann. (Quelle: Simone Ahrend)
Die Frauen vom Verein Endmoräne: In der hinteren Reihe die Gründerin Erika Stürmer-Alex (2.v.l.) | Bild: Simone Ahrend

Verwaiste Gebäude werden entdeckt

Seit der Gründung 1991 öffnet sich der Verein jedes Jahr für Gastkünstlerinnen aus aller Welt. Von ersten Landartprojekten unter dem Motto "Zeichen in der Landschaft" ging es weiter, in alle Himmelsrichtungen Brandenburgs. Erika Stürmer-Alex, die sich selbst als "Urgestein" bezeichnet, zog durchs Land und entdeckte viele nach der Wende verlassene und verwaiste Gebäude - Objekte künstlerischer Begierde also: Die Schweineställe einer ehemaligen LPG in der Nachbarschaft, Dorfkirchen, das Gebäude des stillgelegten Bahnhofs Gusow, leerstehende Ladenlokale in Frankfurt/Oder, den alten Tabakspeicher in Vierraden, das Barockschloss Groß Rietz und viele mehr. "Die Räume werden nicht 'bekunstet'", betont Gründerin Erika Stürmer-Alex, sondern die Künstlerinnen schaffen dort orts- und themen-bezogene Arbeiten.

Orte ohne jeden Komfort

Während ihrer zweiwöchigen Sommerwerkstätten leben und arbeiten sie zusammen an den zuvor ausgewählten, abgelegenen Orten – ohne jeden Komfort. Die Resultate sind hochkarätige Ausstellungen und Performances.

In kleinen Projektgruppen, aber auch individuell, beschäftigen sich die Künstlerinnen mit der Geschichte des jeweiligen Gebäudes und seiner Umgebung, um schließlich einen Kunstparcours zu schaffen, der manchmal über mehrere Etagen geht. "Ruinen, so traurig das ist, sind ja Übergänge, sie sind im Verfall begriffen, und der Verfall hat unterschiedliche Stadien. Dann wird etwas Neues daraus, restauriert oder abgerissen. Der Zwischenzustand, zwischen Neu und wieder Neu ist für mich spannender als das Neue", sagt Christiane Wartenberg, die seit vielen Jahren Mitglied des Vereins ist. Die Bildhauerin und Grafikerin lebt im Oderbruch, war erst geladene Gastkünstlerin und wurde – wie viele andere – auf diesem Weg in den Verein aufgenommen.

Sommerwerkstatt 2019 und Kunstausstellung von Endmoräne e.V. in der Ehemaligen Turbinenhalle am Stienitzsee, Berliner Str. 13A, 15378 Rüdersdorf bei Berlin. Arbeit von Dorothea Neumann. (Quelle: rbb/M. Gericke)
"Zuckerhüte": Arbeit von Dorothea Neumann in den Koehlmannhöfen Frankfurt (Oder) - einer ehemaligen Zuckerfabrik | Bild: rbb/M. Gericke

Thea – wir fahr nach Łódź

In den Koehlmannhöfen, einer ehemaligen Zuckerfabrik in Frankfurt /Oder, schrieb sie ein jüdisches Gedicht – spiegelverkehrt – auf blind gewordene Scheiben. Inspiriert hatte sie dazu der Austausch mit polnischen Gastkünstlerinnen in jenem Jahr (2015). Diese luden die Endmoräne-Künstlerinnen nach Łódź ein und besuchten mit ihnen u. a. einen jüdischen Friedhof. Rozpakować́ walitzki* – Thea, wir fahren nach Łódź ́ hieß das Projekt für die gemeinsame Sommerwerkstatt in der ehemaligen Zuckerfabrik Fankfurt/Oder.

Durch Kunst verbinden

Schönheit – oder von der Vitalität des Vergänglichen hieß ein Projekt im Gutshaus Petersdorf. Abgeräumt – Imbiss geplant – Führungen ins Universum lautete der Titel der Sommerwerkstatt samt Ausstellung auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne in Neuhardenberg. Spielerisch und experimentell erkunden die 20 Künstlerinnen und ihre jeweils eingeladenen Kolleginnen die Orte und deren Geschichte. In Dörfern ebenso wie in Städten Brandenburgs, auch grenzüberschreitend im Nachbarland.

In der ehemaligen Kaserne der Nationalen Volksarmee in Neuhardenberg ließen sie beispielsweise im von ihnen so ernannten "Heldensaal" jede Menge weiße Männerhemden im Wind wehen, als Mahnung gegen Krieg und Militarismus. Sie laden Menschen aus der Umgebung ein, an den Projekten teilzunehmen: "Ganz oft verbinden sich eigene, persönliche Geschichten damit", erzählt Dorothea Neumann, eine aus dem Westen Deutschlands stammende Künstlerin und seit zehn Jahren im Vorstand des Vereins. "In Neuhardenberg kamen viele ehemalige Soldaten und haben sich an ihre Arbeit auf dem Gelände erinnert – und die Gemeinden, die sich oftmals erst querstellen, sind auf einmal begeistert."

Arbeit von Frauke Danzer: <<Seid bereit!>> Eisenhüttenstadt 2018. Ehemaliges Kinderwochenheim Eisenhüttenstadt (Quelle: rbb/M. Gericke)
Frauke Danzer: Seid bereit! Eisenhüttenstadt 2018 Ehemaliges Kinderwochenheim Eisenhüttenstadt | Bild: rbb/M. Gericke

Von der Kunst, das Unmögliche möglich zu machen

Überzeugungsarbeit und manchmal sogar "Liebesbriefe" an Verantwortliche sind notwendig, um Herzen und schließlich die Räume mit Kunst zu erobern. Doch schließlich wird auf diese Weise Zeitgeschichte noch einmal lebendig. Die leerstehenden Gebäude gewinnen zudem durch die Arbeit von Endmoräne an Wert und Ansehen: Die Frauen scheuen sich nicht, verwahrloste Räume von Schutt und Dreck zu befreien, ja überhaupt wieder begehbar zu machen: Sie legen den maroden Charme wieder frei und hauchen den Gebäuden Atem ein.

"Das Barockschloss Groß-Rietz ist inzwischen verkauft", erzählt Dorothea Neumann. In dieses, 2009 noch leerstehende Schloss, eines der ehemals bedeutendsten ländlichen Adelssitze Brandenburgs, lud Endmoräne unter dem Motto: Wie kommt die Kuh aufs Dach, oder von der Kunst, das Unmögliche möglich zu machen.

Selbst Taubenschläge werden zu Kunstorten

Dass sie diese Kunst beherrschen, beweisen die Frauen nun seit fast drei Jahrzehnten. Selbst Taubenschläge werden zu einladenden Sälen, in denen sie BesucherInnen empfangen - mit Klängen, Malerei, Video und Fotografie, Grafiken und Plastiken, poetischen oder verstörenden Installationen und immer wieder: humorvollen Performances. KunstliebhaberInnen aus Berlin und Brandenburg wissen das auch zu schätzen und reisen in die Orte, in denen Endmoräne gerade arbeitet oder ausstellt. „Wir sind immer wieder überrascht, was sie da auf sich nehmen, es sind ja oft weit entfernte Orte, schwer zu erreichen!", erzählt Dorothea Neumann.

Minimalistische wie opulente Installationen, drinnen wie draußen: Damit schlagen die Künstlerinnen Bögen von der Geschichte zur Gegenwart, vom Militär zur Zivilgesellschaft, von der Architektur zur Natur und zu den Menschen, schließlich von Berlin nach Brandenburg.

Die Künstlerinnen des Vereins Endmoräne haben, so heißt es in der Begründung der Jury für den Berlin Brandenburg Preis 2020, "das kulturhistorische Erbe Brandenburgs in besonderer Weise erhalten, haben mit ihrem Einsatz für die Werke der Bau- und auch Gartenkunst erkennbar und nachhaltig Impulse für die gesellschaftliche und soziale Entwicklung gesetzt."

Der Preis ist allerdings nicht mit Geld verbunden - das müssen die Frauen immer wieder für ihre Projekte beantragen. Und ohne Geld ist keine Kunst zu realisieren.

Beitrag von Michaela Gericke

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