Ausstellung "Der kalte Blick" - "Hier, quasi vor der Haustür, sind alle ermordet worden"
Nazi-Wissenschaftlerinnen fotografierten jüdische Familien, um vermeintliche Rassemerkmale zu dokumentieren. Nur wenige haben den Holocaust überlebt. Eine Ausstellung in der Topographie des Terrors beleuchtet jetzt ihre Geschichte. Von Maria Ossowski
Es sind 565 Porträts, jedes einzelne kaum größer als eine Zigarettenschachtel. Die Menschen auf den Fotos sind grell ausgeleuchtet. Den Männern sind Bärte und Schläfenlocken abgeschnitten, die Frauen blicken verstört und voller Sorge. Kein Kind schaut unbeschwert. Sie alle haben sich nicht freiwillig ablichten lassen.
"Fotos erinnern an erkennungsdienstliche Fotos der Kriminalpolizei"
Ende 1941 hatten das Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau, eine Art wissenschaftliche Ideenfabrik, und das wissenschaftliche Institut Wien zwei Anthropologinnen darauf angesetzt, die typischen Rassemerkmale sogenannter Ostjuden zu erfassen. "Diese Fotos erinnern an erkennungsdienstliche Fotos der Kriminalpolizei", sagt die neue Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors, Andrea Riedle.
Es sei der Ausstellung wichtig gewesen, "diese Menschen nicht noch einmal zu Schaustücken zu degradieren". Deshalb hängen die Fotos dicht an dicht in der Mitte des Raumes an schmalen braunen hohen Wänden, zwischen denen niemand durchgehen kann, und die nur von der Seite einsichtbar sind.
"Das ist nicht irgendwo weit weg in der Sowjetunion"
Rundum erzählt die Ausstellung die jüdische Geschichte der Stadt Tarnów unter deutscher Besatzung: Erst das gute Nebeneinander im Geschäftsleben, die jüdischen Bürgermeister und Honoratioren, die Bilder von Familienfeiern - dann die Ausgrenzung, die Entrechtung, die Demütigung bis hin zur Vernichtung. Tarnów liegt 80 Kilometer östlich von Krakau und hatte damals 55.000 Einwohner, von denen die Hälfte jüdisch war.
Angeregt hat diese Ausstellung der Historiker Götz Aly "Tarnów ist von hier aus genauso weit weg wie Mittenwald. 600 Kilometer Luftlinie, das ist sehr nahe, ein westgalizisch-österreichisch geprägtes Städtchen. Das ist nicht irgendwo weit weg in der Sowjetunion. Nein, hier quasi vor der Haustür, sind alle ermordet worden, die hinterher hätten sagen können, der und der fehlt mir."
Ausstellung zeigt, wie es in den Ghettos zuging
Auf Anleitung der damaligen Anthropologinnen Maria Kahlich und Elfriede Fliethmann hatte der Fotograf Rudolf Dodenhoff 1942 mit kaltem Blick von jedem "Individuum" vier Fotos angefertigt: von vorn, in der Drittelansicht, im Profil und frontal mit dem Kopf in den Nacken gelegt. Ziel: Die Vorurteile gegenüber Juden sollten in dem rassekundlichen Projekt bestätigt werden.
Kurz darauf wurden nahezu alle Fotografierten ermordet. Zu sehen sind die Jüdinnen und Juden zusammengepfercht hockend auf dem Marktplatz in Tarnów, bewacht von deutschen Polizisten. Tarnow war klein, das Ghetto aber genau so grausam und voller Schrecken wie die großen Ghettos in Warschau, Lodz oder Krakau.
"Das ist die erste Ausstellung, die in dieser Klarheit zeigt, wie es in den Ghettos im besetzten Polen zugegangen ist. Wie das genau organisiert wurde, wie die Leute zusammengetrieben wurden. Wie die Hälfte von ihnen auf dem Friedhof oder in einem nahen Waldstück erschossen wurde, die andere Hälfte in die Vernichtungslager gefahren wurde, das war überall so ähnlich in diesen kleineren Städten", erklärt Historiker Götz Aly.
Vermessung angeblich rassisch minderwertiger Menschen
Die Fotos zeigen, und das ist sehr selten, ein Wissenschaftsverbrechen der Nazis: die Vermessung angeblich rassisch minderwertiger Menschen. Beide Täterinnen wurden nicht belangt, haben aber wissenschaftlich keine Karriere mehr gemacht. Ihre Fotos lagerten bis in die 1990er Jahre im Keller des naturhistorischen Museums Wien.
Hier fand die Anthropologin Margit Berner die Bilder, wertete sie aus und ordnete sie in jahrzehntelanger Arbeit mit Holocaustgedenkstätten in den USA und mit Yad Vashem in Israel namentlich zu. Den Kuratorinnen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Götz Aly gelang es, die vielen Dokumente und Bilder aus Tarnów auszustellen.
Drei hochbetagte Überlebende des damaligen Fotoprojektes in Tarnów wären gern zur Ausstellungseröffnung aus New York, Paris und Israel gekommen – Corona machte es unmöglich. Eine Nachfahrin aus Israel schrieb jedoch, wie überwältigend es sei, ihre Großmutter, ihren Großvater, Tante und ihren Onkel zum ersten Mal zu sehen. Bislang waren sie nur Namen. Jetzt haben sie wenigstens ein Gesicht.