Streamkritik | "Familiodrom" aus den Sophiensälen - Erziehungsexperiment für kollektive Online-Elternschaft

Di 08.12.20 | 10:52 Uhr | Von Ute Büsing
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Symbolbild: Eine Schauspielerin während einer Theaterprobe in der fabrik Potsdam am 18.11.2020 (Bild: imago images/Martin Müller)
Audio: Inforadio | 08.12.2020 | Ute Büsing | Bild: imago images/Martin Müler

Ein Klassiker der modernen Pädagogik, Jean-Jacque Rousseaus "Emile oder Über die Erziehung", liefert die Vorlage für das "Familiodrom" des Berliner Performances-Kollektivs Interrobang. Am interaktiven Livestream mit Publikumsbeteiligung fand Ute Büsing Gefallen.

Corona macht’s möglich: Gemeinsam mit dem Publikum bringt Interrobang im virtuellen Raum ein Kind zur Welt – und lässt ihm per Abstimmung verschiedene Erziehungsmodelle angedeihen. Till Müller-Klug hat die interaktive Performance mitersonnen. "Wir wiederholen das Erziehungsexperiment von Rousseau für eine kollektive Online-Elternschaft, die alle Erziehungsentscheidungen gemeinsam trifft und abstimmt." Statt wie sonst bei den interaktiven Game-Settings von Interrrobang im theatralen Raum, wo die Abstimmung mit bunten Bauklötzen erfolgt, wird jetzt durch einen Klick bei Zoom mit-votiert.

Nachdem Wohnort, soziale Schicht und Geschlecht des Babys – es kann auch eine Emilie sein - bestimmt sind, geht es um nur vordergründig ganz banale Fragen gestresster Eltern: Fertigbrei oder Frischgemüse? Schnuller ja oder nein? In der Trotzphase Grenzen setzen oder laufen lassen? Die Performer markieren die beim Multitasking oft überforderten Eltern und setzen die Erziehungsentscheidungen der Online-Eltern um.

Entspanntes Votieren am Bildschirm zuhause

Anders als von Rousseau 1762 in seinem Hauptwerk "Emile oder Über die Erziehung" ausformuliert, tendieren moderne Eltern zu weniger Rigorosität, definieren Eingreifen oder Laufenlassen nach anderen Regeln, schätzen sich trotz Überforderung ihrer Elternschaft glücklich. Das geht zumindest aus den Vorgaben der Performer (Bettina Grahs, Lajos Talamonti, Lisa Großmann) hervor.

Mit dem "klassischen gefürchteten Mitmachtheater, das Leute auf die Bühne bugsiert, die das gar nicht wollen", haben Interrobangs Spielanlagen zu gesellschaftlich-relevanten Gegenständen - meist in den Sophiensälen uraufgeführt (zuletzt etwa "Philosophie Maschine", "Total Therapy"oder "Brot und Spiele") - ohnehin nichts zu tun, so Till Müller-Klug. Umso weniger bei der Online-Variante. Das Zoom-Publikum zuhause kann einfach nur entspannt zuschauen – mit-votieren, oder sogar eingreifen und dann auch im Bild sichtbar werden.

Neue Erzählpraktiken in interaktiven Theaterräumen

Seit zehn Jahren spielt das Kollektiv Interrobang mit "theatralen Gemeinschaften" und versucht auf seine Weise, partizipative Teilhabe als Demokratiemodell voranzutreiben. In installativen Theaterräumen schafft es Settings, die zum Mitmachen und tief Eintauchen in die Materie einladen - neudeutsch auch gerne "Immersion" genannt. Till Müller-Klug entstammt der postdramatischen Kaderschmiede für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Ko-Regisseurin Nina Tecklenburg treibt neue Erzählpraktiken performend und schreibend voran und Lajos Talamonti gehört seit 1996 zu den treibenden Berliner Performance-Kräften ortsspezifischer und interaktiver Formate.

Schon vor den Corona-bedingten Streamings haben Interrobang mit hybriden Formen aus analogem Theaterspiel und neuer digitaler Medientechnik gearbeitet. So sehen sie in den durch Corona vorangetriebenen Übertragungs- und Mitwirkungstechniken auch eine Chance. "Wir fühlen uns hier in den Sophiensälen wie so eine Mischung aus Chaos Computerclub und Fernsehstudio", gesteht Till Müller-Klug lachend ein. "Ohne Improvisation geht noch gar nichts."

Bei "Familiodrom" geht es um gesellschaftliche Grundfragen der Erziehung - von der Wiege bis zur Pubertät, wo das Wunschkind auf einmal Influencer/in ist. Plädiert das Online-Publikum für die unbedingte, freie Entfaltung des kindlichen, des jugendlichen Willens, oder setzt es auch mal Grenzen?! Endet das Erziehungsexperiment in der Familienhölle oder in einer besseren Gesellschaft? Auf den multipel geteilten Bildschirmen erlebt das Publikum zum Ende mit diversen Teilnehmern aus dem virtuellen Raum eine "digitale Renaissance" der etwas anderen Art.

Sendung: Inforadio, 8.12. 2020, 6:55Uhr

Beitrag von Ute Büsing

1 Kommentar

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  1. 1.

    Na ja, Online-Sex und Sex übers Internet geht ja schon, da ist auf Entfernung Kinder machen und dann
    online erziehen eigentlich nur der nächste logische Schritt.

    Aber Kunst ist ja dazu da, den Geist zu erweitern ...

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