Festival-Kritik | "Apotome Live" - Herrschaftskritik mit der Musiksoftware
Das Berliner CTM-Festival musste wegen der Corona-Pandemie in den digitalen Raum verlegt werden. Seinen politischen Anspruch hat die CTM aber nicht verloren – etwa mit einer Liveperformance, erzeugt mit einer Software ohne kulturellen Bias. Von Lennart Garbes
Schon das Setting für "Apotome Live" ist wie gemalt für eine avantgardistische Kunstperformance. Fünf Musiker und Musikerinnen, gekleidet in schwarz und grau, stehen an fünf im Kreis aufgestellten Tischen. Auf den Tischen sind Mischpulte aufgebaut, überwuchert von Kabeln und Cinch-Steckern. Ebenfalls in der Runde sitzt eine Cellisten, natürlich auch in Schwarz. Sie alle befinden sich in der abgedunkelten, steril wirkenden Betonhalle im silent green in Berlin, die eingetaucht ist in langsam pulsierendes lila-weißes Licht.
Eine Software als Headliner
Gemeinsam erzeugen die Musiker live improvisierte, wundersam-dystopische, elektronische Klangwelten. Interagiert wird dabei erst einmal so gut wie gar nicht. Der Livestream zeigt Musiker, die konzentriert auf ihre Instrumente starren, an Reglern drehen und in der totalen Kameraeinstellung aussehen wie die Lagerfeuerversion eines Kraftwerk-Konzertes. Wer genau hier für welchen Ton verantwortlich ist, bleibt unklar.
Am besten funktioniert der Stream daher eigentlich mit geschlossenen Augen. Dann kann man sich ganz darauf konzentrieren, wie sich Melodien und Rhythmen langsam heranwälzen und wieder davon treiben. Doch um das klassische Konzerterlebnis geht es sowieso nur zum Teil. Der eigentliche Star an diesem sechzehnten Abend des Berliner CTM-Festivals 2021 ist die Software "Apotome". Sie ist das Kompositionsprogramm, mit dem die Liveperformance erzeugt wird.
In der ersten halben Stunde gibt die Musikproduzentin Faten Kanaan, zugeschaltet aus Brooklyn, die verträumte Grundrichtung der sich ununterbrochen weiterentwickelten Klangperformance vor, während die Elektro-Musiker und die Cellistin in Berlin darauf reagieren, Elemente dazugeben, verzerren oder verdoppeln. Im zweiten, mitreißenderen Teil bedient dann Khyam Allami aus dem Kreis der sechs Musiker "Apotome".
Komponieren ohne kulturellen Bias
Der irakisch-britische Multi-Instrumentalisten Allami ist auch derjenige, der die Musiksoftware entwickelt hat. Der Musikwissenschaftler wollte sich nicht mehr damit zufriedengeben, dass die bekanntesten Kompositionsprogramme, ausschließlich den Logiken klassisch-westlicher Musik folgen. Dagegen entwickelte Allami "Apotome", mit der auch mikrotonale Elemente komponiert werden können, die kleiner sind als die klassisch-europäischen Halbtonschritte, und die vor allem in der klassischen arabischen und indischen Musik vorkommen. „Apotome“ soll damit die eurozentrischen Grenzen herkömmlicher Musiksoftware überwinden.
Was mit dem Kompositionsprogramm alles möglich ist, lässt sich ohne besonders geschultes Gehör während der Performance allerdings nur an einigen Stellen erahnen. Ohne die Diskussionsrunde vor dem Livekonzert oder die Erklärungen im Internet erschließt sich die Herrschaftskritik der Performance nur bedingt – was aber auch nicht ganz einfach erscheint, wenn der subversive Kern der Performance die zugrundeliegende Software ist. Wirklich eindrucksvoll wird diese Stunde experimenteller, elektronischer Musik allerdings erst, wenn man auch den politischen Anspruch und die viele Arbeit dahinter erkennt.
Sendung: rbbKultur, 30.01.2021, 7:55 Uhr