Ein Holocaust-Überlebender erzählt  - Tür an Tür mit Anne Frank

Mi 03.02.21 | 11:32 Uhr | Von Hendrik Schröder
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Pieter Kohnstam bei der Eröffnung des Anne Frank Tags 2019 (Quelle: © Anne Frank Zentrum/Ina Fassbender)
Audio: Inforadio | 03.02.2021 | Hendrik Schröder | Bild: Anne Frank Zentrum

Pieter Kohnstam wohnte als Kind in Amsterdam im selben Haus wie Anne Frank. Am Dienstagabend hat er auf Einladung des Berliner Anne-Frank-Zentrums erzählt, wie er sie kennenlernte - und wie seine Familie den Holocaust überlebte. Von Hendrik Schröder

Pieter Kohnstam wurde in Holland geboren, nachdem seine Eltern vor den Nazis flüchten mussten. Anne Frank war seine Freundin und Babysitterin. Bis es auch in Amsterdam zu unsicher wurde. In einer Online-Veranstaltung des Berliner Anne-Frank-Zentrums hat Kohnstam am Dienstag seine Geschichte erzählt.

Eine ganz große, wichtige Frage stellt Dalia Grinfeld von der "Anti Defamation League" gleich am Anfang der Veranstaltung, in ihrem Grußwort. "Wie kann Erinnerung an den Holocaust, an die Shoa, an alles was passiert ist, auch authentisch sein", fragt sie. Und erzählt, dass jede/r vierte Schüler*in ab 14 Jahren in Deutschland mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen könne und nicht wisse, was da gewesen sei. "Wie viele haben denn wirklich schon mal mit einer jüdischen Person gesprochen, wie viele ihre eigenen Lehren aus der Shoa gezogen?"

Nach diesen aufrüttelnden Einstiegsfragen wird dann Pieter Kohnstam aus seinem Wohnzimmer in Florida zugeschaltet. Schon lange lebt er in den USA. Da sitzt er entspannt und lächelnd zusammen mit seiner Frau vor der Kamera. Zu den Organisatoren sagt er: "Ich weiß nicht, was ihr geraucht habt, ausgerechnet mich einzuladen, aber das ist eine große Ehre für mich". Wäre das jetzt eine vor Ort Veranstaltung, das Gelächter im Saal wäre groß.

Heile Welt in Holland

Kohnstam erzählt, wie seine Eltern 1933 nach Holland flohen. Sein Vater fuhr voraus, suchte eine Bleibe, die Mutter kam nach. "Damals waren die Niederlande neutral und weltoffen", sagt Kohnstam, "das konnte man ja schon an den vorhanglosen Wohnzimmerfenstern sehen", saht er und grinst in die Kamera. Und er erzählt, wie er Anne Frank kennenlernte, die in demselben Haus wohnte und seine Babysitterin wurde. Wie seine Mutter die Idee mit dem Tagebuch für Anne Frank hatte. Zwischen den Interview-Teilen mit Pieter Kohnstamm liest der Schauspieler Alexander Wertmann Passagen aus Kohnstams Buch, in dem er seine Gesichte aufgeschrieben hat. Aus der Sicht seines Vaters.

Im zweiten Stock unseres langgestreckten Hauses wohnten die Franks. Otto und Edit und die Töchter Margot und Anne. Die Franks stammten aus Frankfurt am Main. Wie so viele andere Flüchtlinge in Amsterdam hatten sie die Zeichen und die antisemitischen Parolen richtig gedeutet.

Die Flucht geht weiter

Aber die einigermaßen heile Welt in den Niederlanden hielt nicht lange. Als die Nazis Holland besetzten, das Misstrauen wuchs, die Stimmung unerträglich wurde - da beschlossen die Kohnstams, weiter zu fliehen. Das Angebot der Familie Frank, sich gemeinsam zu verstecken, lehnten sie ab. Konstams Eltern waren sicher: Überleben kann nur, wer flieht.

Eine einjährige Odyssee brachte Pieter und seine Eltern über Belgien, Frankreich, Spanien nach Argentinien. In Sicherheit. Sie sprangen auf Züge, bestachen Beamte. Die Mutter landete zwischendurch im Gefängnis.

Obwohl Kohnstam all das so ruhig erzählt, wird doch in jedem Satz die ganze Grausamkeit des Nazi-Regimes überdeutlich. Wie bewegend, sich diese Geschichten anzuhören von denen, die sie erlebt und überlebt haben!

Um auf Dalia Grinfields Eingangsfrage zurückzukommen: So geht authentisches Gedenken. Aber was wird, wenn von den Holocaust-Überlebenden niemand mehr da ist, um seine Geschichte zu erzählen?

"Mut zum Leben - eine Familie auf der Flucht in die Freiheit" von Pieter Kohnstam.

Sendung:

Beitrag von Hendrik Schröder

3 Kommentare

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  1. 3.

    Ich kann Ihnen nur zustimmen. Mich berühren diese Berichte immer. Wie man den Holocaust überleben und trotzdem positiv in die Zukunft blicken kann... unglaublich. Leider werden die Überlebenden immer weniger.

  2. 2.

    Dank Pandemie geht dieser wichtige Bericht komplett unter :-( und wie schade ist es, dass man nicht größere Veranstaltungen machen kann in dieser Zeit... Ich hätte ihm gerne zugehört, aber habe es gerade erst gesehen.

  3. 1.

    Den Überlebenden zuhören zu können, ist eines der größten Geschenke, die man bekommen kann. Nur so ist es möglich, zumindest ein klein wenig die Grausamkeit des Holocaust zu begreifen.

    Zitat:"Um auf Dalia Grinfields Eingangsfrage zurückzukommen: So geht authentisches Gedenken. Aber was wird, wenn von den Holocaust-Überlebenden niemand mehr da ist, um seine Geschichte zu erzählen?"

    Gott sei Dank gibt es Menschen wie Steven Spielberg, der Überlebende per Video ihre Geschichte erzählen läßt und damit die Erinnerungen für die Ewigkeit festhält.
    Leider können aber auch diese Videos keine Fragen beantworten.

    https://sfi.usc.edu/

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