Reaktion auf Fälle von Kindeswohlgefährdung - Staatliche Ballettschule gibt sich neuen Namen und neues Programm

Bessere Frühwarnsysteme und mehr Kommunikation sollen künftig verhindern, dass es an der Staatlichen Ballettschule zu Kindeswohlgefährdung kommt. Ein neues Schulprogramm enthält weitgehende Reformen – und einen neuen Namen. Von Tina Friedrich
Es ist ein erster sichtbarer Schritt der Aufarbeitung: Eineinhalb Jahre nachdem ehemalige Schülerinnen und Lehrer schwere Vorwürfe der Kindeswohlgefährdung an der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik erhoben haben, hat sich die Schule nun selbst neue Regeln gegeben - und einen neuen Namen: "Staatliche Ballett- und Artistikschule Berlin" heißt sie künftig.
Das Schulprogramm soll das Schulleben partnerschaftlicher gestalten und künftig Machtmissbrauch und Kindeswohlgefährdung verhindern. Die 14 Mitglieder der Schulkonferenz, bestehend aus Interims-Schulleiter Dietrich Kruse, Elternvertretern, Schülervertretern und Lehrkräften, verabschiedeten einstimmig das Programm. Für den neuen Namen stimmten 13 Mitglieder - bei einer Gegenstimme.
Umfassenden Kulturwandel angestoßen
Der Kulturwandel, den Kruse angestoßen hat, ist umfassend. Die erhobenen Vorwürfe bezogen sich nicht nur auf eine fehlende Kommunikationskultur zwischen Schulleitung und Lehrkräften, sondern vor allem auf die Vernachlässigung der Fürsorgepflicht für Schülerinnen und Schüler. Probleme wie Essstörungen, Bodyshaming oder Überlastung infolge häufiger Auftritte blieben teilweise ungelöst, wie die Untersuchungen von Clearingstelle und Expertenkommission bestätigten. Seither wurden neue Strukturen geschaffen, die zum Teil bereits seit Beginn des Schuljahres im Herbst 2020 erprobt werden. Das Schulprogramm macht diese Entwicklung nun offiziell. Formal muss ihm auch die Schulaufsicht noch zustimmen.
Das Vertrauen scheint zurückzukehren
Eine Art neues Frühwarnsystem wurde eingerichtet für den Fall, dass Kinder beispielsweise Essstörungen entwickeln. In mindestens halbjährlichen Teamsitzungen besprechen die Lehrkräfte aller Bereiche die Situation aller Schülerinnen und Schüler der Klasse im Hinblick auf Verhaltensänderungen, stark schwankendes Körpergewicht oder andere mögliche Auffälligkeiten. So soll rechtzeitig auf etwaige Risiken reagiert werden können.
Das Angebot sei bereits angenommen worden, sagt Kruse rbb24 Recherche. Auch wenn derzeit die Teamsitzungen pandemiebedingt nicht stattfinden könnten, hätten sich im Rahmen der Erprobungsphase Lehrkräfte an ihn gewandt, um beispielsweise auf eine mögliche Essstörung hinzuweisen. "Das Vertrauen scheint da zu sein", freut sich Kruse. Der betreffende Schüler sei daraufhin vom Unterricht freigestellt worden, um sich eingehend medizinisch untersuchen zu lassen.
Psychologische Beratung für Lehrkräfte
Zudem gibt es für Lehrkräfte die Möglichkeit, sich einmal im Monat mit einer Schulpsychologin vom Sibuz (Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum) zu beraten, wenn es Probleme mit einzelnen Schülern oder Schülerinnen gibt. Auch dieses Angebot werde bereits regelmäßig angenommen, sagt Kruse.
Im Rahmen der Personalentwicklung gibt es regelmäßige Unterrichtsbesuche durch die Schulleitung. Diese Besuche sind nicht als Kontrolle der Lehrkräfte gedacht, betont Kruse. "Sollten aber in diesem Rahmen für das Kindeswohl relevante Beobachtungen gemacht werden, hat das natürlich entsprechende Konsequenzen." Die Besuche dienen in erster Linie dazu, Beratungsgespräche vorzubereiten und Fortbildungsschwerpunkte zu identifizieren.
Beobachtungen sollen ausgewertet und "anonymisiert schulintern veröffentlicht" werden. 14 solcher Unterrichtsbesuche haben Kruse und seine Stellvertreterin bereits absolviert.
Handlungsleitfaden für Krisensituationen
Zwei Beratungslehrerinnen erarbeiten seit einigen Monaten gemeinsam mit Pro-Schul und Wildwasser e.V. ein Kinderschutzkonzept. Gemeinsam mit drei Vertrauenslehrerinnen - je eine aus dem Bereich Allgemeinbildung, Bühnentanz und Artistik - sind sie die wichtigsten Ansprechpartnerinnen für Schülerinnen und Schüler, die Probleme im theoretischen oder praktischen Unterricht oder im Schulalltag haben. Die Beratungslehrerinnen sollen langfristig mit dem Sibuz zusammenarbeiten. Zusätzlich gibt es ein zehnköpfiges Krisenteam.
Ein Handlungsleitfaden strukturiert künftig den Umgang mit "besonderen Situationen". Darunter fallen neben Mobbing auch sexuelle Belästigung, Suizid- oder Gewalt-Androhungen. Sollte es zu solchen Vorfällen kommen, muss zunächst die Schulleitung oder eine der beiden Beratungslehrerinnen informiert werden. Gemeinsam mit Mitgliedern des Krisenteams wird dann beraten, zuletzt trifft die Schulleitung die Entscheidung über das weitere Vorgehen. Solche klaren Handlungsvorgaben fehlten an der Ballettschule. Auch ein Krisenteam gab es bisher nicht.
Auftritte müssen genehmigt werden
Ein Kritikpunkt aus der Vergangenheit war, dass die hohe Zahl an Auftritten pro Jahr die Schüler überlaste, gerade auch dann, wenn vorgeschriebene Ruhezeiten nicht eingehalten werden können. Deshalb wurde festgelegt, dass Auftritte grundsätzlich von der Schulleitung genehmigt werden müssen. Insbesondere die Ruhezeiten sollen künftig streng kontrolliert werden, um Überlastung zu verhindern. Rechtlich bleibe die Regelung der Auftritts- und Ruhezeiten aber ein "Graubereich", sagt Kruse. "Das bedeutet eine hohe Verantwortung für die Schulleitung."
Im Schulprogramm sind derzeit 17 Kooperationspartner verzeichnet. "Wenn man merkt, dass es zu viele Auftritte werden, müssen wir möglicherweise die Zahl der Auftritte reduzieren", sagt Kruse.
Um den Absolventinnen und Absolventen der Schule zusätzliche Bühnenpraxis zu ermöglichen, gibt es seit diesem Jahr ein Mentoring-Programm in Kooperation mit dem Staatsballett in Form eines voll bezahlten Praxisjahres. Zunächst ist die Finanzierung des Programms einmalig durch die Senatsverwaltung für Kultur gesichert. Der Wunsch der Schule und des Staatsballetts ist eine Verstetigung. Entsprechende Gespräche laufen derzeit.
Schulleitung kann noch nicht besetzt werden
Wem ab dem kommenden Schuljahr die Verantwortung zukommen wird, den Erfolg all dieser begonnenen Reformen sicherzustellen, ist derzeit noch offen. Kruse hört mit Ende des Schuljahres auf. So lange der arbeitsrechtliche Streit um die Kündigung des ehemaligen Schulleiters Ralf Stabel nicht entschieden ist, kann der Posten aber nicht neu besetzt werden.
Die Senatsschulverwaltung hatte Stabel mehrfach gekündigt, doch das Landesarbeitsgericht erklärte diese Kündigungen bislang für unwirksam. Die Senatsschulverwaltung will den Tanzwissenschaftler dennoch nicht mehr an der Ballett- und Artistikschule beschäftigen. Bis 31. Mai wollen sich die Konfliktparteien auf eine tariflich angemessene Weiterbeschäftigung für Stabel verständigen.
Sendung: Inforadio, 20.05.2021, 6:05 Uhr