100 Jahre Gildenhall in Neuruppin - Untergegangene Handwerker-Enklave wird zum Leben erweckt

So 02.05.21 | 08:37 Uhr | Von Milena Hadatty
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Gildenhall-Siedlung in Neuruppin (Quelle: rbb/Milena Hadatty)
Bild: rbb/Milena Hadatty

Vor 100 Jahren formierte sich die Handwerkersiedlung Gildenhall in Neuruppin. Nur wenige wissen heute noch von der einstigen Künstler-Enklave. Ändern sollen das nun ein Tanzstück, eine Ausstellung und ein Zeichenwettbewerb zu den Kreativen aus den 1920er Jahren. Von Milena Hadatty

Es gab einmal einen Tischler-Architekten, der zugleich reich und sozial fortschrittlich war. Sein Name: Georg Heyer. Er kaufte ein großes Grundstück am Ruppiner See, baute sich Haus und Garten und zog mit seinem eigenen Beitrieb, einem Sägewerk, gleich daneben.

Er wollte diese gute Lage zwischen Berlin und Hamburg nutzen, mit direkter Zugverbindung und am Wasser, um eine Enklave von Künstlern und Handwerkern zu etablieren. Der Name Gildenhall, im Zeichen der "Gilde", steht bis heute noch da, als ein Stadtteil von Neuruppin. Im Gegensatz zu ihren Bauhaus-Kollegen, war die Gruppe um Georg Heyer gegen die Industrialisierung und Massenabfertigung von Designgegenständen. Gildenhall setzte ganz im Sinne der deutschen Lebensreform auf das "selbst Gemachte", also auf das Handwerk.

Die Gruppe baute Siedlungshäuser und kleine Villen, alle entlang des Ruppiner Sees, sie hatten eine eigene Schule, ihre Werkstätte in Gildenhall und Aufträge in der ganzen Umgebung. Für die eher konservative Neuruppiner Bevölkerung wirkte diese Enklave auf der anderen Seeseite, die nackt im See badete und sich sonst bunt kleidete, verrückt. Doch bei den Festen, ganz im Stile der großen Bälle der 20er Jahre um das Bauhaus, waren alle Neuruppiner eingeladen. Es wurde Theater gespielt und getanzt.

Gildenhall-Siedlung in Neuruppin (Quelle: rbb/Milena Hadatty)
Proben für das Stück "Tanz auf dem Vulkan". | Bild: rbb/Milena Hadatty

Stück "Tanz auf dem Vulkan" ist Kreativen gewidmet

Hundert Jahre später, im Jahr 2021, am Samstagnachmittag wird im großen Ballettsaal der Neuruppiner Jugendkunstschule auch getanzt: Nach neun Monaten Corona-Lockdown, bei denen alle Proben im eigenen Wohnzimmer über Video stattfinden mussten, kommen endlich die acht jungen Tanzschüler*innen für eine gemeinsame Präsenz-Probe zusammen. Das Stück "Tanz auf dem Vulkan" ist den jungen Kreativen gewidmet, Männer und Frauen, die ab 1921 – also genau vor hundert Jahren – nach Neuruppin gezogen sind, um dort die Siedlung Gildenhall als Lebensutopie, aufzubauen. In diesem Frühling soll mit einer Open-Air-Aufführung dieses Stückes das Gildenhall-Jahr eröffnet werden.

Die Tänzer*innen sind Laien, die in ihrer Freizeit an der Jugendkunstschule trainieren. Sie kommen aus Neuruppin und Umgebung und haben vorher noch nie etwas von der Künstlergruppe gehört. Die 19-jährige Greta wundert sich, als Neuruppinerin so spät davon zu erfahren. "Ich wusste nur, dass hier ein Ortsteil Gildenhall heißt, aber ich wusste nicht, dass es irgendwas mit Bauhaus zu tun hatte, oder dass es früher eine krasse Künstlergemeinde war." Die 17-jährige Marielle, Schülerin aus dem Nachbarort Wuthenow, fügt hinzu: "Ich finde es total gut, dass diese Leute einfach ihr Ding gemacht haben, unabhängig davon, was die eher spießigen Leute auf der anderen Seeseite, nämlich in Neuruppin, denken konnten."

Gildenhall-Siedlung in Neuruppin (Quelle: rbb/Milena Hadatty)
Die Tänzer*innen wurden durch Neuruppin geführt, um einen Eindruck von der einstigen Künstler-Enklave zu bekommen. | Bild: rbb/Milena Hadatty

Besichtigung weckte Neugierde

Die zierliche, anmutig wirkende Gritt Maruschke ist Tanzpädagogin und zugleich Mitbegründerin des Vereins Gildenhall-Horizonte, der die Veranstaltungen rund um dieses Jahresjubiläum organisiert. Sie hat die Neugierde ihre Schüler*innen geweckt, indem sie und ihr Vereinskollege Hendrik Schink die Tänzer*innen durch Neuruppin geführt haben, um die noch vorhandenen Spuren der Künstlergruppe Gildenhall zu besichtigen.

Die Gruppe entschied sich dafür, die Geschichte eines Liebespaares aus der Gildenhaller Zeit als Tanzstück zu erarbeiten. "Wir haben gemerkt, dass das Interesse mehr auf diese zwischenmenschlichen Aktionen lag. Weil es natürlich auch Fragen sind, die die Jugend heute bewegen. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau, wenn beide auch kreativ sind... wer macht Karriere? Wer steckt eher zurück? Aber natürlich gab es auch sehr interessante Frauen in Gildenhall, die ja eigene Werkstätte hatten, ganz autark, und das soll auch ein Vorbild für die jungen Frauen von heute sein", so Gritt Maruschke.

Fantastische, nicht realisierbare Baupläne

Als Zeichenlehrer hat Hendrik Schink für Schüler*innen von Neuruppin, Kyritz und Wittstock einen Wettbewerb zum Thema "Am Wasser gebaut" ausgerufen. Sie sollen sich von der Umgebung und den Materialien inspirieren lassen, aber auch fantastische, nicht realisierbare Baupläne sind erlaubt. "Ich möchte, dass die Kinder wieder frei zeichnen lernen, das schult die Vorstellungskraft, davon gibt es leider zu wenig heute."

Hendrik Schink ist auch der Vorstand des Gildenhall-Horizonte-Vereins. Der Töpfermeister und Zeichenlehrer ging als Kind in den 60er Jahren in die Grundschule am Weinberg. Eine Schule, dessen Bau vom Architekten Heinrich Westphal aus der Kolonie Gildenhall stammte. Das Schulgebäude steht noch. "Zu DDR-Zeiten waren noch die Originalmöbel, alles in Handarbeit in Gildenhall hergestellt, vorhanden, selbst die Türklinken!"

Warum ist Gildenhall fast vergessen?

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 wirkte sich für die Gildenhaller Handwerker und Künstler katastrophal aus. Die meisten mussten ihre Werkstätte aufgeben, einige suchten Arbeit als Kunstlehrer oder verließen das Land. Der Zweite Weltkrieg und die Teilung Deutschlands spalteten die Gruppe dann endgültig.

Für einen Katalog hat Hendrik Schink über 17 Lebensgeschichten von Gildenhaller Künstler und Handwerker nachgeforscht. Er ist der Meinung, dass ein Grund, dass zu DDR-Zeiten und später relativ wenig über Gildenhall bekannt wurde, war, dass die Gruppe auch ideologisch sehr heterogen war, kaum politisch korrekt.

Hendrik Schink sagt: "Es gab in Gildenhall Fälle, die nach 45 die Entnazifizierung durchmachen mussten, andere, die links waren und ins Exil gingen, wichtig ist aber... als Gildenhall existierte, sind alle unterschiedlichen Weltanschauungen ja zusammengekommen. Also man vertrug sich, weil man die gemeinsame Idee hatte, wir bauen eine Kolonie, eine Zelle auf, in der wir arbeiten und wirken können."

Beitrag von Milena Hadatty

8 Kommentare

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  1. 8.

    Ach schade, wenn man etwas weiss oder meint, etwas zu wissen, kann das doch bestimmt auch freundlich formuliert werden.

  2. 7.

    Gildenhall ist heute ein Ortsteil von Neuruppin und ein reines Wohngebiet. Es ist nicht mehr viel von früher zu sehen. Es lohnt sich trotzdem hinzufahren, denn die Gegend um Neuruppin ist wirklich schön und auch Neuruppin ist einen Besuch wert.

  3. 6.

    Das werde ich mir bestimmt anschauen - nach Corona, wenn man wieder darf. Wow, kannte ich nicht - nie davon gehört - dabei ist das genau meine Architektur, ich mag den Stil, dieses klare, schlichte, definierte. Ist auf der Liste, wie auch der Wanderweg rund um die Schorfheide, das Kloster Neuzelle, weiter so mit den Tips :-)

  4. 5.

    Um alternative Kunst geht es doch in dem Artikel gar nicht. Gildenhall war eine Genossenschaft von Kunsthandwerkern, die nach den Prinzipien des Deutschen Werkbunds (DWB) und des Bauhauses arbeiteten, welche sich unter anderem durch klare Formen und Funktionalität vom Biedermeier abhoben. Damit kann man sie zur Avantgarde zählen, einer künstlerischer Bewegung ab Anfang des 20. Jahrhunderts, die u. a. Kunst in den Lebensraum integrierte. Als Genossenschaft waren sie im Prinzip auch eine Gilde. Aber wie gesagt, hat das alles mit alternativer Kunst überhaupt nichts zu tun.

  5. 4.

    Da fühle ich mich sofort angesprochen im beruflichen Sinne, ganz bewusst nur Einzelstücke fertigend, selten einmal kleine Serie.
    Schade, dass offenbar die Siedlung nicht mehr im ursprünglichen Sinne genutzt wird/existiert?
    Mal auf die Fahndung machen, wo es mehr Information darüber gibt. Und wo evt. Gleichgesinnte, die so etwas gern reaktivieren und realisieren würden.

  6. 3.

    Ja wer hätte das gedacht... Neuruppin kann nicht nur Fontane und Schinkel, Neuruppin kann auch Avantgarde der Babylon Berlin-Zeit. Wer nur durch Neuruppin nach Rheinsberg fährt, verpasst glatt was. Rheinsberg kann nur den alten Fritz...

  7. 1.

    Traurig ist bei diesem ganzen Artikel nur, daß der Verfasser, also der Autor auch den Sinn von Gildenhall nicht verstanden hat! Es ging damals nicht um alternative Kunst, sondern um den Erhalt einzelner Gilden! Eine Gilde ist: eine Gruppe von Leuten in gleichen Verhältnissen, mit gleichen Interessen, Absichten o. Ä.
    Damit wollte der Gründer die Industrialisierung der Baubranche anprangern. Ob da heute ein Tanz die Putten, den Stuck oder das Fachwerk zurück holen kann, mag bezweifelt werden, ein alter Handwerker!

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