Stream-Kritik | “In Stanniolpapier” - Mutige Musical-Adaption ohne Milieu-Kitsch

| Von Ute Büsing
Mirjam Wershofen und Adam Demetz in einer Szene des Musicals "In Stanniolapier" in der UdK (Bild: UdK/Daniel Nartschick)
Audio: Inforadio | 02.05.2021 | Ute Büsing | Bild: UdK/Daniel Nartschick

Das Stück "In Stanniolpapier" erzählt von einer brutalen Überlebensstrategie. Studierende der Universität der Künste erzählen die Geschichte nun mit den Mitteln des Musicals. Und wegen der Corona-Beschränkungen produzieren sie es als Stream. Von Ute Büsing

"Ich habe keine Angst. Ich bin durch alles gegangen in meinem Leben. Nur eben ohne Angst", sagt Maria, die Protagonistin von "In Stanniolpapier". Es geht um sexuellen Missbrauch in der Kindheit und den fast schon sprichwörtlichen "Freund der Familie", der ihn verübt hat. Aus der kindlichen Maria, die sich eine starke Schulter zum Anlehnen wünscht, wird eine Prostituierte mit Spaß am Sex, die sich ihrer Wirkungsmacht über Männer bewusst wird. Bei der Begegnung mit gewalttätigen Wiederholungstätern aber nutzt sich der Thrill ab für diese, wie es heißt "Hüterin eines wild begehrten Schatzes".

"In Stanniolpapier" ist ein starker Text aus der Perspektive einer so genannten Sexworkerin, die sich trotz des durchlebten Martyriums nicht als Opfer sieht. Käuflicher Sex ist für sie "ein Unternehmen, mich Geldschein für Geldschein für das zu entschädigen, was man mir mit Gewalt gestohlen hatte".

Ritt auf der Rasierklinge zwischen Selbstermächtigung und seelischer Verletzung

Behutsam, ja liebevoll, nehmen zehn Studierende des Studiengangs Musical an der Berliner Universität der Künste (UDK) es jetzt mit ihren Mitteln mit dem schwierigen Stoff auf. Gekonnt reiten sie auf der Rasierklinge zwischen Selbstermächtigung und tiefen seelischen Verletzungen.

Anders als Regisseur Sebastian Hartmann, der "In Stanniolpapier" von Björn S.C. Deigner vor zwei Jahren für die Autorentheatertage des Deutschen Theaters in einer hochumstrittenen Reduktion auf die Bühne brachte, lassen die Studierenden alle Facetten sprechen und werden dem Text dabei gerecht. Songs und Choreografien verbinden sich mit den Textflächen, verstärken oder kontrastieren sie.

In der Regie von Mathias Noack und musikalisch geleitet und am Piano begleitet von Adam Benzwi, unterstützt eine kluge und einfühlsame Song-Auswahl (Brecht/Weill, Hollaender, Rio Reiser, Musical-Songs etwa aus "Sweet Charity" und "Phantom der Oper"), Marias Binnenschau und ihre Außendarstellung. Sie spricht und singt hier mit vielen starken Stimmen - als seelengemordetes Kind, nach einem gewaltsamen Übergriff von Rettungssanitätern ins titelgebende schützende Stanniolpapier gepackt, als Überlebende in der Therapie-Gruppe.

100 Minuten ohne Milieu-Kitsch

Unaufdringlich sind diese 100 Minuten des etwas anderen, mutigen Musical-Theaters. Zwar bedient die Garderobe mit Netzstrümpfen, Lederklamotten, Strapsen, Push-up-BHs und High Heels das Rotlicht-Milieu unter der erst allmählich lesbar werdenden Leuchtreklame "Fuck You" (Bühne und Kostüme: José Luna). Aber dieser Showcase mit kleinen feinen Streetdance-Einlagen (Choreografie: Anne Retzlaff) ist so gut gelöst, dass sich ein größerer gesellschaftlicher Zusammenhang von Begehren, Macht und Missbrauch spielerisch erschließt. Hier wird nichts romantisiert, kein Milieu-Kitsch abgeliefert, sondern behutsam der Erzählerinnenstimme gefolgt.

Das Ensemble des Musicals "In Stanniolpapier" steht vor einem Schriftzug "Fuck You" (Bild: UdK/Daniel Nartschick)Das Ensemble vor dem leuchtenden "Fuck You" Schriftzug.

Dabei hilft es auch, dass Männer und Frauen die Rollen teilen und tauschen, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen, auch der des Strichers, der sich um Obdachlose "kümmert", oder des Zuhälters, der trotz alledem, Marias einziger – unzuverlässiger - "Halt" ist, zumal dann, als sie versucht, das schlimme "Familiengeheimnis" in einem Prozess zu lüften und bei der Wahrheitsfindung erneut auf der Strecke bleibt: zurückgewiesen von ihrer Mutter und dem Rest der Familie, enterbt. Das ist nah dran und gut gemacht.

Zwar funktionierte der Livestream am Samstagabend technisch nicht einwandfrei, aber ab Montag soll die Aufzeichnung bis zum 16. Mai auf der Website der Berliner Universität der Künste [udk-berlinde] abrufbar sein. Und dann hoffen die Studierenden auf Live-Aufführungen spätestens im Herbst.

Sendung: Inforadio, 02.05.2021, 10:10 Uhr

Beitrag von Ute Büsing

Nächster Artikel