Theaterkritik | "Das Leben des Vernon Subutex 1" - Mehr erzählt als gespielt

Ein ehemaliger Plattenladenbesitzer verliert seine Wohnung und schläft auf den Sofas von Freunden und Bekannten. Thomas Ostermeier hat an der Schaubühne "Das Leben des Vernon Subutex" inszeniert. Mit Joachim Meyerhoff - und aus großer Distanz. Von Ute Büsing
Nach vier sehr langen Stunden sind so viele Erzählungen aus dem Leben des Vernon Subutex zusammen gekommen, dass die Erinnerung an einzelne Episoden schwer fällt. Im Mittelpunkt von Thomas Ostermeiers Adaption des ersten Teils der Roman-Trilogie "Das Leben des Vernon Subutex" von Virginie Despentes an der Berliner Schaubühne steht der Niedergang des gleichnamigen Ex-Plattenladenbesitzers. Joachim Meyerhoff legt ihn mit allem erdenklichen Rest-Charme eines ins Elend gestürzten Pariser Popstars aus besseren Zeiten von Anfang bis Ende als Erloschenen an.
Mit fettigen strähnigen Haaren, in Schlabber-T-Shirts, Parka und mit Kassengestell-Brille quält sich dieser Vernon Subutex als Dinosaurier der analogen Ära und damit Vertreter einer Lost Generation melancholisch durch die Ruinen seiner Existenz. Er verliert drei enge Freunde aus wilden Sex-Drugs-und-Rock’n-Roll-Zeiten an unterschiedliche Todesarten, wobei einer von ihnen, ein gewisser Alex Bleach, wie ein Geheimnis fast alle Figuren in diesem abgründigen Gesellschafts-Panorama miteinander verbindet. Vernon Subutex besitzt sein "Testament" auf Speichermedien. Eine der meist verwackelten Film-Zuspielungen zeigt Bleach Bildnis.
Abgründige Couch-Surfing-Odyssee
Vernon Subutex' Wohnung wird gepfändet und er schläft bei früheren Weggefährten unterschiedlichster Couleur auf der Couch. Bei denen, die sich in den Verhältnissen eingerichtet haben, begegnen ihm Ekel, Rechtsradikalisierung und Überdruss – auch wenn sie im Überfluss leben.
Die einst feierwütige Bassistin ist im Reinlichkeitswahn verbürgerlicht und frustriert von "Ü-50-Pimmeln". Ein erfolgloser Drehbuchautor hetzt gegen alles Andere und Fremde und würde am liebsten im Supermarkt um sich ballern. Die Nymphomanin spannt ihren besten Freundinnen die Männer aus und geht ihrem Gast Subutex mit Dauergequatsche auf den Keks. Eine Cyper-Schnüfflerin namens Hyäne heckt Facebook-Profile und intrigiert in höherem Auftrag mit Fake News. Big New Media hat das Regiment über private Beziehungen übernommen.
Wo Vernon Subutex auch Unterschlupf sucht – es begegnen ihm Lug, Trug und Verrat. Aber irgendwie passiert das alles in Thomas Ostermeiers Inszenierung aus großer Distanz. Fast alle Figuren aus den divergierenden Milieus eint die frontale Ansprache ans Publikum, Interaktionen sind auf ein Minimum reduziert. Es wird mehr erzählt als gespielt unter einem erleuchteten Revolver – "Revolver" hieß Subutex' Plattenladen - in und auf dem kalten Metallgerüst auf der Drehbühne, das auch Projektionsfläche für triste Paris-Videos, Skelett-Paraden, kopulierende Strich-Männchen und gelegentliche Nahaufnahmen der Akteure ist.
Seltene Momente der Klarsicht und des Gefühls
Auch wenn die Live-Band mit Songs unter anderem der Dead Kennedys, von Gang of Four, Sonic Youth und den Pixies kräftig einheizt: Für viel Retro-Gefühl sorgt das Polit-Potpourri aus der französischen Krisen-Gesellschaft Mitte der 2000er Jahre nicht. Erst nach der Pause, wenn sich die Erzählung ausführlich gefallenen Porno-Stars, Transgender-Menschen und einer bekennenden Muslima widmet, gelingen Momente der Klarsicht gesellschaftlichen Auseinanderdriftens und auch: Momente der Rührung.
Bei Joachim Meyerhoff ist Vernon Subutex ein fast kindlich staunender Zeitreisender, der die durchdigitalisierte, fragmentierte Gesellschaft nicht mehr versteht. Als er endgültig in der Gosse landet, obwohl er dem früheren Glamour gelegentlich nochmal gefährlich nahe war, fühlt er sich wie ein blökendes Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank.
Sendung: Inforadio, 05.06.2021, 9 Uhr