Theaterkritik | "Still Life" im Maxim Gorki - Ist Gewalt gleich Gewalt?

Marta Górnicka bestreitet die Spielzeiteröffnung im Gorki-Theater mit dem Stück "Still Life. A Chorus for Animals, People and all other Lives". Die Regisseurin liebt es, ihr Publikum herauszufordern. Von Anke Schaefer
Die polnische Regisseurin und Sängerin Marta Górnicka arbeitet seit vielen Jahren mit Chören und hat vor zwei Jahren am Maxim Gorki Theater das "Political Voice Institut" gegründet. Dabei handelt es sich eigenen Angaben zufolge um ein "künstlerisches Labor für die Erprobung von kollektiver Sprache und Körper". Das Institut will die "Verfassung der Gemeinschaft" analysieren und fragen, wie man die Stimme für die Freiheit nutzt. Jetzt steht das neueste Projekt "Still Life. A Chorus for Animals, People and all other Lives" vor der Premiere.
"Wir müssen die Gesellschaft neu erfinden. Wir müssen die ganze Welt neu erfinden. Und zwar jetzt!" Das sagen die acht Performer:innen im Chor, sie sind in graue Kluft gekleidet, erinnern an die Besatzung eines Raumschiffes. Unter dem Grau ihrer Anzüge guckt jeweils ein kleines bisschen Farbe heraus, aber wirklich nur ein bisschen. Sie sind in ständiger Bewegung: In genau getakteter Choreografie rufen sie uns zur Räson, wir sollen uns verändern, denn was dieser Chor sieht ist Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus, Ausbeutung, Patriarchat. Überall: Gewalt.
Wieder gemeinsam atmen!
Während er von all diesen Katastrophen erzählt, sprüht der Chor vor Spiel-Freude. Denn: Als die Pandemie kam, wurden Chöre ja zur großen Gefahr erklärt und verboten. Górnicka und ihre Performer mussten in der Vereinzelung proben und sich digital zusammenschalten. Covid-19 habe die Gemeinschaft der atmenden Körper zerstört, sagt sie im Programmheft-Interview. Nun aber: Endlich wieder gemeinsam atmen, endlich wieder ein Publikum, für das man spielen kann, wenn auch keine Intendantin vor Ort ist, die warme Worte zur Spielzeiteröffnung hätte sagen können. Shermin Langhoff ist in Quarantäne.
Museale Biodiversitätswand als Metapher für Ausbeutung
Nicht so Marta Górnicka. Sie steht erhöht im Zuschauerraum und dirigiert ihren Chor. Sie hat sich für diesen Weltuntergangstext von einem Besuch im Naturkundemuseum in Siena inspirieren lassen. Dort sind, wie in zahllosen anderen europäischen Städten, die Tierarten in Schaukästen zu sehen. Das Leben soll für die Ewigkeit konserviert werden, doch Górnicka befindet, dabei werde der Tod ausgestellt und das auf der Basis von Ausbeutung. Ausbeutung der Tiere, Ausbeutung der Kolonien. Diese im Tod fixierten und ausgestellten Tiere sieht sie als Metapher für vieles andere, was im Westen schiefläuft.
Fragwürdige Sätze zur Bedeutung des Holocaust
Marta Górnicka legt dem Chor gesellschaftskritische Sätze von Achille Mbembe, Judith Butler oder Donna Haraway in den Mund. Doch leider geht es oft viel zu schnell, als dass man alles verstehen könnte, da helfen auch die Übertitel über der Bühne nichts. Auch der Holocaust ist Thema. Im Programmheft wird dazu der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg zitiert, der ein Buch zum Thema „Multidirektionale Erinnerung“ geschrieben hat. In kurzen Szenen kommen Puppen zum Einsatz. Eine alte Puppen-Dame stellt auf dem Schoß einer Performerin die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage: "Es muss einmal laut gesagt werden. Der Mechanismus der Gewalt, der dem Holocaust innewohnt ist immer derselbe." Deutschland liege falsch, wenn es nur den einen Holocaust als Holocaust gelten ließe, den, der in der Schule unterrichtet werde, von dem in Büchern und Zeitungen die Rede sei. "Alles wiederholt sich und am häufigsten Auschwitz."
Kommen wir zur Freiheit - indem wir überall nur Gewalt sehen?
Das macht stutzig. Will Martha Górnicka provozieren? Warum legt sie en passant einer Puppe Worte in den Mund, die die Singularität der Shoa in Frage stellen? Und weil sie weiß, dass man da stutzig werden kann - erklärt Górnicka im Programmheft, sie wolle über die eurozentrische Perspektive hinaus gehen. "Ich lehne jede Form der 'Opferkonkurrenz', der Hierarchisierung von Leid und Tod, ab." Sie wolle das Verhältnis "des Westens zum Leben als solchem" hinterfragen.
Am Ende werden all die bunten Tiere aus ihrer Fixierung auf der toten Biodiversitätswand des Westens in die lebendige Freiheit des Zuschauerraums entlassen: Sie laufen plötzlich als gebeamte Lichtgestalten über die Köpfe des Publikums hinweg. Schönes Schlussbild, farbenfrohe Utopie, aber eine erstaunliche Diskrepanz zum analytischen Ansatz des Stückes. Gelangen wir zu dieser bunten Freiheit, wenn wir überall nur Gewalt sehen und diese Gewalt, alle möglichen Katastrophen, als komplett gleichwertig betrachten? Das darf bezweifelt werden. Insofern: Nicht wirklich stimmig, dieser Abend.
Sendung: Inforadio, 01.08.2021, 15:50 Uhr