Theaterkritik | "Streulicht" im Gorki - Bühnen-Empowerment nach Art des Hauses

Sa 21.08.21 | 10:02 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Aysima Ergün, Wojo van Brouwer und Cigdem Teke bei der Fotoprobe des Theaterstücks Streulicht im Gorki Theater Container. (Quelle: imago images/C. Behring)
Bild: imago images/C. Behring

Nurkan Erpulat inszeniert am Berliner Maxim-Gorki-Theater die Geschichte einer Arbeitertochter, die sich durch das Bildungssystem kämpft. "Streulicht" ist trotz seiner Tristesse kraftvolles Erbauungs-Theater, wie man es vom Gorki kennt. Von Fabian Wallmeier

Eine weiße Hauswand im Gegenlicht, davor drei Spieler:innen in Trainingsanzügen. Wo das alles angefangen habe, fragen sie. Es müsse doch einen Ausschlag gegeben haben, einen Grund für all die Brüche und Lücken in der Bildungs-Biographie.

Nurkan Erpulat und sein Ensemble gehen am Berliner Maxim-Gorki-Theater auf Spurensuche in Deniz Ohdes furiosem Debütroman "Streulicht", der sprachgewaltig von einem bitteren Aufstieg aus der sogenannten bildungsfernen Schicht erzählt. Sie treffen auf eine Herkunft im Arbeitermilieu, in einem Industriedorf, über dem eine saure Luft hängt.

Ein eigenes Zeichensystem in der Wohnung

Sie treffen dort auf einen Vater, der 40 Jahre lang jeden Tag Aluminiumbleche in Lauge tunkt, die Wohnung mit Ramsch vollstellt und nachts mit Aschenbechern wirft. Auf eine Mutter, die aus ihrem türkischen Heimatdorf in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland gekommen ist, das Zerwürfnis mit ihrem Mann kleinzureden versucht und für ihr rätselhaftes Dahinsiechen auch da noch nicht die richtigen Worte findet, als es zu spät ist.

Sie treffen auf die namenlose Protagonistin: die Tochter der beiden, die beim Heimkommen auf Zehenspitzen in ihr Zimmer läuft. Die in den Schwingungen der Wohnung ein eigenes Zeichensystem ausmacht, das nichts mit dem zu tun hat, was man ihr in der Schule beizubringen versucht. Die, obwohl sie Antworten weiß, in der Klasse den Mund hält, weil sie glaubt, dass man das von ihr erwartet.

Cigdem Teke, Aysima Ergün und Wojo van Brouwer bei der Fotoprobe des Theaterstücks Streulicht im Gorki Theater Container. (Quelle: imago images/C. Behring)

Ballonseidige Dreifaltigkeit

Und sie treffen auf ein Bildungssystem, das diesem Mädchen nicht gerecht wird. Die Protagonistin hält sich selbst klein, ihre Talente bleiben unentdeckt. Die Lehrer begegnen ihr mit unverhohlener Abfälligkeit - und am Ende mit der Frage nach den Lücken und Brüchen, die ihnen unerklärlich erscheinen, weil sie sich niemals die Mühe geben, sich für das Mädchen zu interessieren.

Die ballonseidige Dreifaltigkeit aus Aysima Ergün, Çiğdem Teke und Wojo von Brouwer teilt sich den Text auf. Sie alle sind die namenlose Protagonistin und sprechen den Text in der Ich-Form. Nur hin und wieder schlüpfen sie in andere Figuren. Alle drei tun das wohlmoduliert: mal mit dem am Gorki oft erprobten Bühnen-Empowerment, dann wieder mit leiseren Tönen.

Bühnenbildnerin Magda Willi hat in den Container des Gorki nur diese weiße Wand gestellt. Die aber besteht aus mehreren beweglichen Elementen und wird von den Spieler:innen ständig neu gestellt. Zusammen mit den Projektionen der naturalistischen Strichzeichnungen von Büke Schwarz entsteht so mal ein Klassenzimmer, mal das Dorf, mal die Enge der vollgestellten Wohnung, mal Schattenspiele der drei Darsteller:innen. Einfach, aber effektiv.

Am Ende etwas vollgestopft

Erpulat adaptiert Ohdes Roman ohne größere inhaltliche Auslassungen - was seine Inszenierung vor allem gegen Ende der nur 95 Minuten fast so vollgestopft wie die väterliche Wohnung erscheinen lässt. Dennoch wird er dem Text alles in allem gerecht: der tiefschwarzen Grundstimmung, der Zerrissenheit der Protagonistin, den immer wieder überraschenden Sprachbildern. Schade nur, dass Erpulat als allerletztes Bild, das hier nicht verraten werden soll, ein ziemlich abgedroschenes wählt.

Hier und da ringt er dem Text auch unerwartet komische Momente ab. Das Ankommen der Protagonistin in der Abendschule, die ihr den Weg in eine akademische Zukunft ebnen soll, inszeniert er als Musical-Nummer. In all der Tristesse, die dem Abend zugrunde liegt, wirkt das befreiend - und dennoch gibt es den Text nicht der Lächerlichkeit preis, denn diesem Ausflug ins Erbauliche liegt eine bittere Ironie zugrunde.

Erpulat, Regisseur der ersten Stunde der Langhoff-Intendanz am Gorki, hat im Haus zuletzt einen zumindest verwandten Stoff inszeniert: Auch in "Maria" von Simon Stephens kämpft eine junge Frau gegen soziale Ungleichheiten und verbaute Aufstiegschancen. Doch dieses Mal hat er den weitaus besseren Text zur Verfügung - und lässt eine insgesamt deutlich düsterere Grundstimmung zu. Gut gemachtes Erbauungs-Theater sind aber beide Abende.

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Beitrag von Fabian Wallmeier

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