Berliner Musikfest | Mahler-Chamber-Orchestra - Ein Abend wie ein Freundschaftsband

Fr 03.09.21 | 13:23 Uhr | Von Jens Lehmann
Archivbild: Das Mahler-Chamber-Ochestra. (Quelle: dpa/EFE)
Bild: dpa/EFE

Auf dem Berliner Musikfest treffen sich die besten Orchester für Klassische Musik in Europa. Am Donnerstag war das Mahler-Chamber-Orchestra in der Stadt - und Dirigent und Komponist George Benjamin machte aus dem Auftritt ein Gesamtkunstwerk, findet Jens Lehmann.

Es ist ein Abend der Musikerfreundschaften, ein Abend der Erinnerung, der Hommage. Da spinnen sich zwischen den einzelnen Werken oder deren Komponisten Fäden, verbinden sie zu einem Netz aus Bezügen, musikalisch, aber auch biographisch. Und im Zentrum dieses kunstvollen Gebildes: der Mann am Pult, der britische Dirigent und Komponist George Benjamin, eine zentrale Figur der Neue-Musik-Szene in Großbritannien - am Donnerstag beim Berliner Musikfest mit dem Mahler-Chamber-Orchestra zu Gast.

Und weil es hier um Freundschaften geht, widmet er einem seiner besten Freunde, dem verstorbenen Komponisten Oliver Knussen, einen Großteil des Abends. Der war Lieblingsschüler von Olivier Messiaen und lange Jahre Leiter des Aldeburgh-Festivals – und gleich zu Beginn des Konzerts kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, wieviel Witz und klangliche Raffinesse selbst in den acht kurzen Minuten seines "Way to Castle Yonder" stecken.

Musik für eine Terrier-Dame

Kein Wunder - das ist Musik aus der Kinder-Oper "Higglety Pigglety Pop!" (ja, so heißt sie wirklich) nach Maurice Sendak. Aus der Abenteuerreise einer Terrier-Dame hat Knussen eine mal witzige, mal träumerische Mini-Suite voller Kindheitserinnerungen gemacht – inklusive Klappern des Milchwagens.

Und auch das nächste Stück ist eine Erinnerung an Knussen: Der hatte Benjamin zum 300. Geburtstag von Henry Purcell um eine Hommage an das große englische Vorbild gebeten. Und so hat Benjamin mächtig am Klang dreier kleiner Fantasien geschraubt. Hier zeigt sich auch, was für herausragende Solisten im Mahler-Chamber-Orchestra spielen.

Die braucht es auch im nächsten Werk. Apropos: Auch hier geht es wieder um Freundschaften. Denn auch das Orchester und George Benjamin sind schon seit zwölf Jahren eng verbunden. Immer wieder studieren sie gemeinsam Programme ein, immer wieder schreibt der Brite den jungen Musikerinnen und Musikern Werke auf den Leib. So auch sein neues "Concerto for Orchestra" – na klar: in memoriam Oliver Knussen.

Druckfrische Musik

Erst vor drei Tagen ist das Werk bei den BBC Proms in London uraufgeführt worden – druckfrische Musik beim Musikfest, und es ist ein unruhig flackerndes Werk geworden. Als würden sich unter der Oberfläche eines malerischen Sees unheilvolle Schatten bewegen. Hier kommt jede Instrumentengruppe zu ihrem Recht – vom Strawinsky-Zitat in der Tuba bis hin zum Paukenduett.

Doch wer glaubt, das jüngste Werk des Abends sei auch das modernste, radikalste gewesen, der irrt sich. Das stammt nämlich von eben jenem Igor Strawinsky, dem das Musikfest in diesem Jahr ja auch in mehreren Konzerten huldigt. Hier ist sein Klavierkonzert "Movements" aus den 1950er Jahren zu hören - und Tamara Stefanovich geht dieses sperrige Werk mit Verve und fliegenden Haaren an. Als Zugabe gibt’s - natürlich - Ätherisches von Knussen.

Warum man allerdings für die Viertelstunde, die Stefanovich auf der Bühne ist, den Flügel von seinem Platz im Orchester über das Musikerfoyer in den Keller und mit dem Bühnenaufzug rauf und dann das ganze nochmal rückwärts rödeln muss, will mir nicht in den Kopf. Wenn ich etwas in der Pandemie nicht vermisst habe, dann sind das unnötige Umbaupausen, für die man übrigens schon vor langer Zeit Intermezzi, also extra Umbaumusik komponiert und gespielt hat. Und heutzutage lauscht man wieder mehr oder weniger andächtig dem Rumpeln der Bühnentechnik. Da ist doch irgendwas schief gelaufen?

Ein Brustlöser aus dem Barock

Damit das zarte Seelchen des maskenbewehrten, vielleicht ja frisch im hauseigenen Testzentrum coronagetesteten und im Schachbrett im Saal verteilten Konzertbesuchers nicht allzu sehr mit moderner Musik belastet wird, wird noch ein weiterer dicker Faden gesponnen. Von Benjamins eigener Purcell-Hommage hin zu Strawinskys eigenem Ausflug ins Barock: seiner Pulcinella-Suite. Und vielleicht kommt es mir auch nur so vor, aber auch für die Musikerinnen und Musiker des Mahler-Chamber-Orchestra ist diese heitere, virtuose Musik … tja, im Sportjargon würde man wohl von einem "Brustlöser" sprechen.

Benjamin geht es weniger um Brillanz, sondern vielmehr um Texturen und Effekte, da hupt und kratzt es, dass es eine Freude ist - und der Dirigent und Komponist und Netzwerker des Abends zeigt, dass selbst in Strawinskys Neoklassizismus verdammt viel Moderne steckt. Toll.

Beitrag von Jens Lehmann

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