Der neue "Ring" an der Deutschen Oper - Magie und Feinripp
16 Stunden Wagner, das ist der "Ring des Nibelungen". Eine Herkulesaufgabe für jedes Opernhaus, besonders in Corona-Zeiten. Nun ging das Riesenwerk an vier Abenden über die Bühne des Hauses an der Bismarckstrasse. Eine Bilanz von Maria Ossowski
"Mit den Wagner-Opern hat man stets Kummer. Es ist ein immer noch aufregender, ein großartiger Kummer", sagte Marcel Reich-Ranicki einst. Stimmt, und den Oberkummer macht grundsätzlich der "Ring", auch genannt "Ring, der nie gelungen".
Deshalb erstmal Applaus für ein Haus, das sich an dieses Riesenmonstrum wagt, zumal in Corona-Zeiten. Kein Verantwortlicher hat in der Deutschen Oper hingeschmissen und ist geflohen, wie das in Bayreuth und anderswo passieren kann. Das ist der erste Erfolg.
Callas und Co. wussten, warum sie nie die Brünnhilde sangen
Den nächsten dürfen Solisten, Orchester, Dirigent und Chor feiern.
Diese sagenhafte Nina Stemme als Brünnhilde: schön und schlank und weich in Kantilenen, dramatisch bis zum Schluss. Was steckt da für eine Kraft in dieser zarten Frau! Callas und Co. wussten schon, warum sie nie die Brünnhilde gesungen haben, eine echte Killerpartie. Bravo auch für Clay Hilley aus Georgia, sein Siegfried, ebenfalls ein Marathon, klingt stark und herrlich.
Alle, alle geben sie im ersten Zyklus ihr Allerbestes, allein Thomas Blondelle als Feuergott Loge und Okka von der Damerau als Waltraute lohnen diesen Ring. Sie werden solide, fein und unterstützend begleitet von Generalmusikdirektor Donald Runnicles und seinem Orchester, die Wagner-Tradition dieses Hauses strahlt auch aus dem Graben.
Bevor wir die Regie kritisieren, kurz dies: Patrice Chéreaus legendären Bayreuther Jahrhundertring von 1976 hat das Publikum bei der Premiere hysterisch kreischend ausgebuht, aber vier Jahre später mit stundenlangen Ovationen gefeiert. Gegen Chéreau wurden zu Beginn Flugblätter verteilt, überall musste Polizei den Regisseur schützen, im Publikum gab es Schlägereien. Götz Friedrich hat seine Berliner Walküren vor 35 Jahren in Strapsen auftreten lassen, der Dirigent musste die Premiere im Walkürenritt unterbrechen, die Alt-Wagnerianer in der Deutschen Oper kochten vor Wut.
Beim Es-Urton bleibt das Saal-Licht an
All das blieb uns in Berlin mit Stefan Herheim erspart. Die Buh-Rufe für den Regisseur und sein Team erreichten nach der "Götterdämmerung" allerdings hohe Dezibelstärken. Denn Herheim hat alle Erwartungen konterkariert, den Stoff als Spiel im Spiel auf die Bühne gebracht und so maximale Distanz geschaffen. Alle tun nur so, als ob da was passiert, sie spielen, dass Siegfried Brünnhilde befreit, dass Hagen ihn ersticht.
Beim wunderschönen, leisen Beginn und dem herrlichen Es-Urton über 136 Takte bleibt das Saal-Licht an, Leute laufen über die Bühne. Nix mit Mythos und Rausch. Die Götterkostüme funkeln geheimnisvoll und schön, aber der beleibte Siegfried sieht aus wie ein zu heiß gewaschener Obelix. Und die Statisten müssen immer wieder in hässlich ausgeleierter Feinripp-Unterwäsche aus den 1950er Jahren auftreten, auch einige Sänger, selbst mit starkem Übergewicht.
Wunderbare Bilder schafft Herheim dazwischen, Bilder voller Magie, beim Drachenkampf, wenn Trompeten die Zähne des Urviechs bilden, oder bei Siegfrieds Tod im nachgebauten Foyer der Deutschen Oper. Bilder, die bleiben.
Wird die Produktion als "Schiesser-Ring" in die Geschichte eingehen?
Dennoch müssen wir erst im Programmheft nachlesen, was die Kofferberge im Bühnenbild bedeuten - grundsätzliche Unbehaustheit - und was der Regisseur uns mit seinem Spiel im Spiel erzählen will. Und immer wieder zwischendurch: Unterwäsche.
Alle ziehen sich um, denn alles ist nur Spiel. Die legendäre Götz Friedrich Produktion hieß "Tunnelring", weil der Ring im Tunnel spielte. Wenn das Herheim-Team hier nicht nacharbeitet, wird die neue Produktion als "Schiesser-Ring" in die Geschichte der Oper eingehen.
Aber wer weiß? Vielleicht jubeln ja alle in vier Jahren, denn auch für den Operngeschmack gilt das Motto von Gott Wotan: "Wandel und Wechsel liebt, wer lebt."
Sendung: Inforadio, 15.11.2021, 9:55 Uhr