Baudenkmal der Nachkriegsmoderne - Vor 60 Jahren wurde der Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche geweiht
"Puderdose, Lippenstift und hohler Zahn": Das Dreigestirn aus Gotteshaus, modernem Turm und Turmruine bildet die Berliner Gedächtniskirche. Vor 60 Jahren wurde Egon Eiermanns Neubau eingeweiht, es folgten bewegte Jahrzehnte. Von Sigrid Hoff
Die alte Turmruine der Kirche am Breitscheidplatz trotzt den neuen Hochhäusern und ist unverkennbar ein Monument der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Gleich daneben, im starken Gegensatz zu der wilhelminischen Architektur aus dem 19. Jahrhundert, behauptet sich der achteckige Neubau der Kirche mit ihrem freistehenden modernen Turm als ein Baudenkmal der Nachkriegsmoderne.
Als am 17. Dezember 1961 der Neubau des Architekten Egon Eiermann geweiht wurde, tauften die Berliner das Dreigestirn aus Gotteshaus, neuem Turm und Turmruine spöttisch "Puderdose, Lippenstift und hohler Zahn".
Seit 60 Jahren prägt das auf einem Podest errichtete Ensemble auf dem Breitscheidplatz, zwischen Zoo und Tauentzienstraße, die Berliner City West.
Touristenmagnet und Ort der Stille
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist mit 1,3 Millionen Besuchern jährlich ein Touristenmagnet. Wegen der Reiseeinschränkungen durch die Corona-Pandemie ist die Zahl der internationalen Besucher allerdings stark zurückgegangen. Zurzeit sind es vor allem deutsche Touristen, Berliner und Berlinerinnen, die das Gotteshaus als einen Ort der Stille inmitten des Verkehrslärms am Breitscheidtplatz aufsuchen.
Im Innenraum des Gotteshauses dringt das Außenlicht nur gedämpft ein, geheimnisvoll leuchten die nachtblauen Glasfenster nach Entwurf des französischen Künstlers Gabriel Loire. Eine meditative Stimmung umfängt die Besucher. "Die Stille in der geräuschvollen Umgebung, das ist es, was die Menschen in den Bann zieht, aber auch die goldene Christusfigur über dem Altar oder die Orgelmusik", sagt Martin Germer, geschäftsführender Pfarrer der City-Kirche.
Ruine des neoromanischen Turms darf bleiben
Der Vorgängerbau, 1875 von Franz Schwechten errichtet, war im Krieg weitgehend zerstört worden. Die Erhaltung der markanten Turmruine, heute das Wahrzeichen der City West, war zunächst umstritten. Den Teilnehmern des 1956 ausgelobten Wettbewerbs war freigestellt, ob und wie sie ihn bewahren würden. Der siegreiche Entwurf von Egon Eiermann sah zunächst eine völlig neue Gestaltung vor. Als die Pläne publik wurden, formierte sich Widerstand in der Berliner Bevölkerung, den auch Eiermann ernstnahm.
"Er kam dann auf die Idee der kulturellen Verortung mit dem schönen Spruch: Ohne den Turm könnte diese Kirche überall stehen, in Caracas oder Brasilia, mit dem alten Turm nur in Berlin", sagt Kerstin Wittmann-Englert, Kunsthistorikerin an der TU Berlin. Am Ende durfte die Ruine des neoromanischen Turms stehenbleiben, als Mahnmal gegen den Krieg.
Kirche auch im Zentrum der Politik
Das Besondere von Eiermanns Entwurf ist nicht nur die durchbrochene Betonfassade mit dem blau leuchtenden Glas, sondern auch die städtebauliche Gestalt. "Eiermann hat eine mehrstufig erhöhte Insel geschaffen", sagt Wittmann-Englert. "Im Zentrum steht die Ruine des alten Turms, westlich daneben das Kirchenoktogon, dann neben der Ruine der neue Turm und an den jeweiligen Spitzen des Podests die Kapelle und das Foyer."
Als die Kirche im Dezember 1961 geweiht wurde, teilte bereits eine Mauer Berlin in Ost und West. In den Jahren der Trennung war die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Hauptkirche West-Berlins und Predigtstätte des Bischofs. Ob Studentenrevolte, Hausbesetzer-Proteste, Nato-Doppelbeschluss: Die Kirche als Mittelpunkt der City West stand häufig auch im Zentrum der Politik.
Blick auf die Gedächtniskirche 1920 und 2020
"Gewissermaßen das Gedächtnis dieser Stadt"
Aber auch in jüngster Zeit machte sie Schlagzeilen: Am 19. Dezember 2016 raste ein Lkw über den Weihnachtsmarkt vor der Kirche - und tötet insgesamt 13 Menschen. An den islamistischen Terroranschlag erinnert ein Mahnmal, die Namen der Opfer sind auf den Stufen des Podests vor dem Gotteshaus eingelassen. Der Anschlag wirkt bis heute nach.
Den Namen "Gedächtniskirche" interpretiert Pfarrer Martin Germer durchaus zeitgemäß: "Wir verstehen die Kirche heute nicht mehr zum Gedächtnis von Kaiser Wilhelm, aber sie hat in den 125 Jahren so viel in sich aufgenommen, sie ist gewissermaßen das Gedächtnis derStadt." Er denke da an die Studentenbewegung in den 1960er Jahren, das alliierte Weihnachtssingen, das es jahrzehntelang gab, oder die Ansprache der britischen Queen Elizabeth II 2015 vor der Kirche, sagt Germer. Und natürlich an den Anschlag vor fünf Jahren.
Nach 60 Jahren bedarf das markante Gotteshaus jedoch der Sanierung. „Unser großes Thema sind die Betonwaben, in denen die blauen Glaselemente eingesetzt sind“, sagt Pfarrer Germer. „Aber inzwischen sind es nach 60 Jahren auch die blauen Gläser selbst. Die müssen alle ausgebaut und die Werkstatt gebracht werden, durchrepariert und gründlich gereinigt werden, da muss sehr viel geschehen.“
Mindestens 36 Millionen Euro werden dafür notwendig sein. Im kommmenden Jahr soll die Sanierung beginnen.
Sendung: Abendschau, 17.12.2021, 19:30 Uhr