Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung - Ausstellung zeigt das Leben der europäischen Juden nach dem Überleben

Mi 30.03.22 | 06:23 Uhr | Von Maria Ossowski
Blick in die Ausstellung "Unser Mut. Juden in Europa 1945-48" (Bild: dpa/Carsten Koall)
AUDIO: rbbKultur | Maria Ossowski | 29.03.2022 | Bild: dpa/Carsten Koall

Etwa 3,5 Millionen Juden überlebten den Holocaust. Aber was fängt man an mit seinem Leben, wenn der Rest der Familie tot ist? Vom Mut der europäischen Juden zum Neuanfang erzählt die Ausstellung "Unser Mut" in Berlin. Von Maria Ossowski

"Sag niemals, dass Du den letzten Weg gehst." Dieses berühmte jüdische Partisanenlied des Dichters Hirsch Glik empfängt einen in der ersten Sonderausstellung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Sie ist dem jüdischen Mut gewidmet, jenen Menschen, die nach der Shoah ihr Leben neugestaltet haben.

"Unser Mut", Hirsch Glik hat ihn besungen, und "Unser Mut", so hieß auch eine der ersten Zeitungen in den Camps der Displaced Persons, der Überlebenden. Europa war einst mit zehn Millionen Jüdinnen und Juden der jüdische Kontinent gewesen. Mirjam Wenzel, die Direktorin des Frankfurter Jüdischen Museums, hat diese Ausstellung mitkonzipiert.

"Vor der nationalsozialistischen Machtergreifung lebte die Mehrheit der jüdischen Weltbevölkerung in Europa", erläutert Wenzel. "Dann ist sie systematisch vertrieben und ermordet worden. Das, was in der Nachkriegszeit stattfindet, ist ein Nachhall, ein Prozess des Wiederlebenwollens, des Neuorganisierens, der im Schatten der Beispiellosigkeit der Shoah steht."

Was alle Überlebenden versuchten: Familienangehörige zu finden

Das Allererste, was alle Überlebenden versuchten: Familienangehörige zu finden. Überall in den Camps hingen Listen mit Namen, die Menschen suchten. Ein Foto zeigt die Gänge des Pariser Hotels Lutetia im Juni 1945, Überlebende suchen ihre Verwandten. Das Nächste, was alle brauchten: Ausweise, einen neuen Identitätsbeweis. Auch, um Grenzen zu überwinden.

In Polen zum Beispiel konnten sie nicht mehr zurückkehren in ihre Häuser, ihr Eigentum nicht zurückholen, längst hatten Polen es übernommen und wollten es nicht mehr hergeben, es drohten Pogrome. In der polnischen Stadt Bialstok gründeten die Überlebenden eine neue Gemeinde, ein Jerusalem Polens, sie errichteten Denkmäler, sie gründeten Agrarkooperativen, aber sie spürten schnell die feindliche Umgebung.

1948 wanderten viele nach Israel aus. Ganz andere Gründe hatten Juden aus dem deutschsprachigen Raum, sich in Berlin anzusiedeln. Nach Ost-Berlin gingen jene Überlebende, die eine neue Gesellschaftsordnung aufbauen wollten. Mirjam Wenzel: "Wir erzählen hier die Geschichte der Entscheidung für ein sozialistisches Gemeinwesen und die Entscheidung, sich am Aufbau zu beteiligen. Am Beispiel einer bekannten Persönlichkeit wie Anna Seghers, die gar nicht in Ost-Berlin wohnte, sondern im Grunewald, sich aber so einbrachte."

Heiraten beim dritten Date

Die meisten Gegenstände, die die Displaced Persons besaßen, waren klein. Gürtel, Papiere, keine großen Judaica, die passten weder in Verstecke noch ins Fluchtgepäck. Die Jazzband "Happy Boys" hat ihre Instrumente vergraben, und ein Saxophon tatsächlich nach dem Krieg ausgegraben. Wir sehen ein Modell in der Vitrine.

Sieben Orte, darunter Amsterdam, Budapest und Bari zeigen die Wege, die Träume, die Nöte der Überlebenden nach dem Krieg. Und den dringenden Willen, neues Leben zu schenken. Nirgendwo war nach dem Krieg die Geburtenrate höher als in den Camps der Displaced Persons. Ein Hochzeitskleid und Hochzeitsbaldachine zeigen dies.

"Viele der Überlebenden heiraten quasi beim dritten Date ihren Partner. Zum Beispiel gibt es in Frankfurt-Zeilsheim ein Hochzeitskleid, das wird auf zehn Hochzeiten genutzt", so Wenzel. "Sie sehen hier oben, jüdische Hochzeiten finden ja immer unter einem Baldachin, einer Chuppa, statt – das ist wirklich ein sehr markanter Moment, von diesem Lebenswillen, vom Wiedergründen von Familie."

1948 endet die Ausstellung mit der Generalversammlung der UNO, der Ächtung des Völkermordes und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die meisten Überlebenden haben Europa dann verlassen, um sich beispielsweise in Israel ein neues Leben aufzubauen.

Sendung: rbbKultur, 29.03.2022, 17:00 Uhr

Beitrag von Maria Ossowski

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