Festival-Saison 2022 - "Die Situation im Konzertkartenverkauf ist dramatisch"

Die Maskenpflicht ist bei Kulturveranstaltungen abgeschafft, Großkonzerte dürfen ohne Auflagen stattfinden. Doch irgendwie scheint nichts mehr wie früher zu sein. Darf man sich diesen Sommer noch amüsieren? Von Efthymis Angeloudis und Götz Gringmuth-Dallmer
Lichter und Menschen bewegen sich zur frenetischen Bass-Gitarre. Körper berühren sich, Schweiß läuft an Nacken und Armen herab. Keine Scheu, keine Angst und weit und breit keine einzige Maske. Irgendwie kommen Katja Lucker die Bilder des Pop-Kultur Festivals wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten vor. "2019 war die Welt noch in Ordnung", seufzt die Geschäftsführerin des Festivals in der Berliner Kulturbrauerei. "Wir waren ausverkauft mit 10.000 Menschen."
Damals gab es die Veranstaltung zum letzten Mal in vollem Glanz auf der Bühne. 2020 fiel auch die Berliner Pop-Kultur, wie viele andere Veranstaltungen coronabedingt aus. Ein digitales Filmprojekt diente zwar als virtueller Ersatz, doch Besucher und Künstler ließen sich nicht mehr wie sonst zusammenbringen. 2021 fand die Pop-Kultur in einem kleineren, eher regionalen Rahmen statt.
Nicht nochmal so ein Jahr
Jetzt plant die Pop-Kultur wieder mit einer Zuschauerkapazität von 10.000 Menschen. "Wir können es nicht nochmal in so einer Form wie letztes Jahr machen", sagt die Geschäftsführerin. "Das kann ich meinen Mitarbeitern nicht zumuten, wir werden dann alle wahnsinnig." Raum für Fehltritte gibt es nicht. Die Konzerte müssen stattfinden, einen Plan B gibt es laut Lucker nicht. "Wir müssen jetzt einfach wieder zum Live-Business zurück kommen."
Die Anstrengungen, die dafür geleistet werden müssen, hätten sich durch den Fachkräftemangel vervielfacht. Viele Menschen in der Branche, die während der Pandemie keinen Job hatten, hätten jetzt das Berufsfeld gewechselt. "Gleichzeitig merken wir, dass Menschen in der Pandemie auch krank geworden sind, und mental oft nicht mehr in der Lage sind Sachen zu machen”, sagt Lucker. Immer öfter höre sie die Worte "ich kann nicht mehr", auch von Menschen, von denen es man nicht erwartet hätte.
Neues Festival auf dem Flughafen Tempelhof
Unter solchen Bedingungen ist ein Comeback äußerst schwierig, ein Neustart wiederum unvorstellbar. Trotzdem glaubt Stephan Thanscheidt, dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um ein neues Festival ins Leben zu rufen. "Es ist auf jeden Fall mutig", lacht der CEO des Kulturveranstalters FKP Scorpio. "Tempelhof Sounds" soll vom 10. bis 12. Juni auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof stattfinden. "Die Location hat auf jeden Fall für sehr positive Stimmung gesorgt, als wir die Idee vorgetragen haben."
Dabei war es dem "Tempelhof Sounds" auch wichtig, eine breite Plattform für weibliche Acts zu bieten. Um zu gewährleisten, dass die Künstlerinnen, die jetzt vielleicht noch ein bisschen unbekannter sind, eine Bühne haben, um zu wachsen und die Headlinerinnen von morgen werden.
Künstlerinnen und Künstler zeigten sich beeindruckt von dem geschichtsträchtigen Austragungsort. Florence and the Machine, Muse, The Strokes und viele andere kamen schnell als Line-Up zusammen. "Da alle Acts, die wir jetzt haben, auch an dem Wochenende kommen konnten und der Flughafen an dem Wochenende frei war, haben wir gesagt, okay, jetzt machen wir einen mutigen Schritt."
Angst ist kein guter Ratgeber
Angst vor all dem was schiefgehen könnte, hat Thanscheidt nicht. "Wir machen das sehr häufig und wir sind sehr professionell, aber natürlich ist es immer aufregend, wenn man zu einem großen Festival fährt," erklärt der Veranstalter. "Läuft alles so, wie wir uns das vorgestellt haben, reagieren die Menschen entsprechend, haben alle Spaß, gehen danach unsere Besuchenden nach Hause und sagen, wir hatten eine großartige Zeit auf dem Festival?" Das alles seien Fragen, die einem durch den Kopf gehen.
"Angst ist kein guter Ratgeber." Vielmehr sei es eine Herausforderung, die man zu bewältigen habe, weil die ganze Wertschöpfungskette der Live-Entertainment-Branche hinten dranhängt. Das Personal, das Material, Tonfirmen, Lichtfirmen, Caterer, Security Firmen seien noch da, teilweise aber nicht mehr so schlagkräftig wie früher. "Wir haben schon extreme Bedingungen gerade und kämpfen natürlich mit vielen vielen Unwägbarkeiten und Problemen, die wir noch lösen müssen", sagt Thanscheidt.
Dazu gehört nicht nur, dass ein Rockfestival im technoverrückten Berlin seinen Platz finden muss, sondern auch der Flickenteppich an Regelungen und Maßnahmen, die der Veranstaltungsbranche zu schaffen machen. "Eins ist ganz klar, vernünftig planen konnte man bisher nicht."
Konzerte sind mit vielen Risiken verbunden
Die Maskenpflicht wurde bei kulturellen Veranstaltungen abgeschafft, Großkonzerte dürfen nun auch ohne Auflagen stattfinden. Jens Michow, Präsident des Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft, blickt dennoch mit gemischten Gefühlen auf die neue Festival-Saison.
"Ich mache keinen Hehl daraus, dass wir mit der Hotspot-Regelung überhaupt nicht glücklich sind", erklärt Michow im Gespräch mit dem rbb. Vieles sei dadurch nicht planbar. "Und der Flickenteppich wird noch größer." In einzelnen Ländern seien unterschiedliche Regelungen möglich und die Maßnahmen, die ergriffen werden könnten seien dazu nicht an gewisse Voraussetzungen geknüpft. "Das heißt, ein Land kann sagen, hier gilt nicht nur Maskenpflicht, sondern hier werden auch Veranstaltungen nicht im vollem Umfang durchgeführt." Dann würde das Ganze wieder sehr unberechenbar werden.
Was sich der Verband von der letzten Ministerpräsidentenkonferenz gewünscht hätte, sei dass man Planungssicherheit habe. "Und das setzt vor allem voraus, dass Ausfallkosten erstattet werden." Seit dem vergangenen Sommer bieten Corona-Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen eine Wirtschaftlichkeitshilfe für kleinere Veranstaltungen bis zu 2.000 Personen. Sie greift, wenn weniger Gäste kommen dürfen, als ursprünglich eingeplant war. Seit Herbst gibt es zudem die Ausfallabsicherung. Michow wünscht sich aber auch, dass beide Programme des Sonderfonds über dieses Jahr hinaus verlängert werden. "Konzerte sind mit sehr, sehr vielen wirtschaftlichen Risiken verbunden. Kein Versicherer übernimmt das Risiko einer pandemiebedingten Absage."
Tickets bleiben liegen
Denn auch nach den Lockerungen sieht bei weitem nicht alles prächtig aus. "Es gibt sicherlich einen großen Hunger auf Festivals. Aber dennoch wagen sich viele nicht in die Veranstaltungen." Die Besucher würden erstmal abwarten, ob Konzerte und Festivals überhaupt stattfinden. Das hat zur Folge, dass auch der Konzertkartenverkauf nicht so läuft, wie man sich das erhofft hatte. Viele Karten würden in den Vorverkaufsstellen liegen bleiben.
"Die Situation im Konzernkartenverkauf ist dramatisch, das muss man wirklich so sagen", erklärt Michow. "Wir können nur hoffen, dass sich das langsam wieder an die Normalität des Jahres 2019 anpassen wird."
Dürfen wir uns amüsieren?
Diese Normalität liegt für Katja Lucker in weiter Ferne. "Wir haben alle den festen Willen, dieses Jahr tatsächlich wieder durchzustarten, in der Hoffnung, dass eine neue Variante uns nicht im Sommer die Festivalsaison kaputt macht."
Doch diese Befürchtung ist bei weitem nicht die einzige Sorge. Hinzu kämen die Ängste die Menschen aktuell haben, weil ein Krieg vor der Haustür herrscht. "Und auch so einem undefinierten Gefühl, darf ich mich überhaupt amüsieren in Zeiten in denen Menschen auf der Flucht sind, Menschen sterben?", fragt Lucker.
"2019 war eines unserer besten Jahre", denkt sie zurück. "Damals wussten wir noch nicht, wie die Welt sich entwickeln würde."
Sendung: Abendschau, 13.04.2022, 19:30 Uhr