Kultur.Tanken Festival in Neukölln - "Tankstelle, make some noise!"

Nach der Wende feierte die Rave-Szene in leerstehenden Gebäuden in Berlin. Der Sound ist geblieben, der Freiraum nicht: Leerstand ist äußerst selten. Das Kultur.Tanken-Festival hat diesen genutzt – und was Wunderbares daraus gemacht. Von Christopher Ferner
Berlin als Stadt des Leerstandes und der Freiflächen kennen jüngere Menschen und Zugezogene fast nur noch aus Erzählungen. Gerade im Innenstadtbereich scheint jede Baulücke bebaut zu werden – oder bereits geschlossen. Umso eigenartiger, dass an der Ecke Hobrechtstraße/Sonnenallee in Neukölln eine der wenigen Freiflächen Berlins bereits seit Jahren vor sich hingammelt – und das in einem der beliebtesten Bezirke der Stadt.
Die dortige Tankstelle, die mittlerweile einer Ruine gleicht, wird bereits seit 2018 nicht mehr genutzt. Laut mehreren Medienberichten gehört das Grundstück einem Investor, der mit Wohnungen an einem solchen Standort sicherlich gutes Geld machen könnte.

Anspruch: Vielfalt der Künstler:innen
Dass genau solche Orte nicht ungenutzt bleiben müssen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, bewies das Kultur.Tanken-Festival am Samstag. Von 14 bis 21:30 bekamen die Besucher:innen dort nicht nur Musik-Acts zu sehen, sondern auch Tanz- und Sprech-Performances – und das, ohne einen Cent dafür zahlen zu müssen.
Organisiert wurde das eintägige Festival von einer Gruppe von Studierenden der FH Potsdam. "Wir haben uns gefragt, wie ein solcher Ort so lange leer stehen kann, ohne dass was passiert", erklärt Simon Spannig, einer der Organisatoren der Veranstaltung. "Wir wollten dort Kultur und auch wieder Leben hinbringen."
Die Auswahl der Acts sollte nicht nur einem künstlerischen Anspruch genügen – sondern auch die Vielfalt Neuköllns widerspiegeln. “Uns war es wichtig, sowohl BPoC (Anm. d. Red.: Black and People of Color) als auch queere und weibliche Künstler:innen auf die Bühne zu bringen”, erklärt der Student der Kulturarbeit. Ein weitere Prämisse bei der Auswahl der Musiker:innen und Performer:innen war, dass alle in Berlin leben.
Vom Schunkeln zum Shaken
Bereits am frühen Nachmittag ist der Andrang groß. Die Besucher:innen versammeln sich vor der Bühne zwischen den Zapfsäulen unter dem Dach der Tankstelle. Die ukrainisch-deutsche Sängerin Ganna Gryniva machte mit einem experimentellen Mix aus klassischer Musik und Folklore den Anfang. Anschließend folgten Adir Jan und Emrah Gökmen. Während die beiden im Gleichklang an den Gitarren spielten und auf Kurdisch sangen, formierte sich vor der Bühne eine Gruppe aus acht Personen, die den Halay tanzten – ein traditionieller Tanz, bei dem die Beteiligten nebeneinander stehen, sich an den Händen halten und rhythmisch zum Takt bewegen.
Eine neue Stoßrichtung bringt das Trio Asphalt Djeli’s, das traditionelle Instrumente mit Elektro-Sounds verbindet. Die Frontsängerin Astan Meyer rappt und singt dazu auf Französisch und Englisch. Bei dieser Performance werden jedoch nicht nur die Ohren bedient. Vor der Bühne tanzte der Performer Exocé Kasongo zu den hypnotisierenden Beats der Band. Seine Bewegungen, seine Blicke scheinen von der Musik durchdrungen zu werden, so als würde sie Besitz von ihm und seinem Körper ergreifen. Doch er bleibt nicht lange alleine. Eine Person aus dem Publikum gesellte sich zu ihm. Aus der One-Man-Show wird eine Impro-Aufführung, die so organisch und gut funktioniert, dass sie wie einstudiert wirkt.

Nicht nur das Publikum ist von dieser Performance begeistert. Auch die Frontsängerin von Asphalt Djeli’s ist angetan. Während die Beats schneller und tanzbarer werden, steigt auch die Stimmung im Publikum. Astan Meyer spricht jetzt direkt zu den Besucher:innen und ruft: "Tankstelle, make some noise", übersetzt also "macht mal Lärm" – und das Publikum folgt ihrer Aufforderung.
Sie animiert jedoch nicht nur zum Jubeln, sondern auch zum Tanzen. Die Gruppe, sie sich vor der Bühne zusammenfindet, schmeißt die Arme in die Luft, bewegt die Hüften und geht in die Hocke. Alle tanzen individuell und doch zusammen. Es ist eines der Highlights des Festivals, das den Zuschauer:innen drum herum, die mittlerweile auch nicht mehr still stehen, ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Wenn die Tankstelle zum Club wird
Zur richtigen Party wird Kultur.Tanken dann, wenn die DJ Senu auflegt. Ihr Mix aus Afro Beats und Trap verwandelt die leerstehende Tankstelle vollends in eine Tanzfläche. In der einsetzenden Dämmerung machen die Nebelmaschine und die roten Lichter, die die Tankstelle bestrahlen, den Ort zu einem Outdoor-Club. Die Techno-gesättigten Berliner:innen feiern den Sound der DJ, schmeißen die Arme in die Luft und rufen der Frau, die sichtlich Spaß hinter dem Mischpult hat, zu. Auf der zweiten Bühne auf der gegenüberliegenden Seite performt Bonono_i zu ihren Beats einen selbst-choreographierten Tanz.
Das Closing übernimmt DJ Natascha Kann mit einem Mix aus House und Techno. Die Feierei ist dann allerdings pünktlich um 21:30 vorbei – für Berliner Verhältnisse also relativ früh. Doch genau so hat es das Team des Festivals mit den Menschen, die ringsum wohnen, abgesprochen. Dieser Respekt scheint sich ausgezahlt zu haben. Laut Spannig gab es keinerlei Beschwerden der Anwohnenden. Wer an der Sonnenallee wohnt, ist allerdings auch lärmeprobt.
Diversität als Qualitätsmerkmal
Mit ihrem eintägigen Festival hat die Uni-Gruppe gleich Mehreres bewiesen: Dass Leerstand sinnvoll und für die Bevölkerung leicht zugänglich genutzt werden kann. Dass der unsägliche Vorwurf, dass ein Fokus auf Diversität zulasten der Qualität geht, oftmals ausgemachter Blödsinn ist. Und dass ein Festival auch mal um 21:30 vorbei sein kann und es sich dennoch anfühlt, als hätte man genug für den Tag erlebt.
Deswegen verwundert es auch nicht, dass die Veranstalter:innen bereits eine zweite Edition planen: “Wir überlegen nach der überwältigenden positiven Resonanz, an welchem Ort wir das nächste Festival dieser Art veranstalten können.” Bleibt also nur zu hoffen, dass Berlins seltener Leerstand auch in Zukunft nicht nur den Investor:innen, sondern auch den Kreativen überlassen wird.
Sendung: Kulturradio, 21.05.2022, 10 Uhr