Fazit | Berliner Theatertreffen 2022 - Musik, Musik und noch mal Musik

Mo 23.05.22 | 08:15 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Motiv: All right. Good night. Eine Produktion von Rimini Apparat. (Quelle: Merlin Nadj-Torma)
Bild: Merlin Nadj-Torma

Die zehn Inszenierungen des Berliner Theatertreffens 2022 waren geprägt von starken musikalischen Beiträgen. Von Corona blieb aber auch dieses erste Präsenz-Festival nach zwei Jahren Pandemie nicht verschont. Von Fabian Wallmeier

Eines, und das ist gar nicht wenig, kann man nach den zweieinhalb Wochen des am Sonntag zu Ende gegangenen Theatertreffens mit Gewissheit sagen: Ja, das Theater lebt noch - live und vor Publikum. Die zwei vorigen Ausgaben des Berliner Festivals waren noch der Pandemie zum Opfer gefallen: 2020 wurden nur von einiger der ausgewählten Inszenierungen Probenmitschnitte in größtenteils naturgemäß schrecklicher Qualität gestreamt. 2021 war man schon besser aufgestellt - Hybrid-Formate zwischen Präsenz- und Stream-Theater waren mittlerweile in vielen Häusern halbwegs erprobt.

Nun also wieder ein Theatertreffen in Präsenz, in - trotz des zunächst vergleichsweise zögerlichen Vorverkaufs - größtenteils ausverkauften Sälen. Doch ganz wurde auch diese Ausgabe nicht von der Pandemie verschont: "Die Jungfrau von Orleans" vom Nationaltheater Mannheim (einer von zwei Klassiker-Überschreibungen der Auswahl, neben Volker Löschs grässlich belehrendem Polit-Kabarett-Klamauk "Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie") konnte wegen der Covid-Erkrankung eines Darstellers nur in einer Hybrid-Version gezeigt werden. Und die bot eine ziemlich einmalige Gelegenheit des Direktvergleichs von Stream-Konserve und Live-Theater

Erst Stream, dann Live-Theater

Die ersten 90 Minuten sind ein auch im Vergleich zu den meisten anderen Häusern überaus professionell produzierter Theater-Stream aus der Konserve, projiziert auf den Vorhang des Festspielhauses. Doch dann hebt sich der Vorhang - und das eben noch zweidimensional gestreamte Bühnenbild ist nun dreidimensional zu sehen. Eben noch lenkten Kameras und Schnitt den Blick, jetzt kann man ihn frei mal hierhin, mal dahin wenden.

Einen eigenen Sog entwickelt diese letzte halbe Stunde nicht mehr - der den besonderen Umständen geschuldete Bruch ist zu groß. Doch zumindest lassen sich eine Gewissheit und eine Befürchtung mit nach Hause nehmen: Gestreamtes Theater kann Live-Theater nicht einmal dann auch nur ansatzweise ersetzen, wenn es hochprofessionell produziert und auf riesiger Leinwand zu sehen ist.

Soweit die Gewissheit - und nun die Befürchtung: Die Theater sind zwar zurecht heilfroh, dass sie wieder vor Publikum spielen können. Andere Formate hingegen werden Behelfslösung und Ausnahme bleiben. Was einige Theater während der Lockdowns an Pionierarbeit in hybriden und digitalen Formaten geleistet haben, wird leider wohl schnell in Vergessenheit geraten.

Slippery Slope. Almost a Musical. Maxim Gorki Theater (Berlin) (Quelle: Ute Langkafel/MAIFOTO)Slippery Slope. Almost a Musical

Musik, Musik, Musik

Aber zurück zum Theater vor Publikum. Was einen Großteil der diesjährigen Zehner-Auswahl verbindet, ist die große Bedeutung von Musik. "Almost a Musical", also nur fast ein Musical, heißt es etwa vergnügt im Untertitel von Yael Rogens "Slippery Slope". Ronen lässt hier von ihrer sonstigen Arbeitsweise ab, die ihr und dem Maxim-Gorki-Theater schon zwei Einladungen zum Theatertreffen beschert haben: Statt einer semi-autobiographischen Stückentwicklung mit dem Ensemble hat sie zusammen mit Shlomi Shaban, Riah Knight und Itai Reicher ein knalliges, witziges - ja: Musical geschrieben, über Cancel Culture, #MeToo und andere unangenehme Themen.

Einen ganz besonderen Stellenwert hat die Musik auch in "All right. Good night". Da sind auf der Bühne, abgesehen von zwei zumeist stummen Performer:innen, nur Musiker:innen auf der Bühne. Sie spielen einen von Barbara Morgenstern für die Inszenierung komponierten, mal traumschönen, mal fast schmerzhaft ungreifbaren Score.

Die eigentliche Erzählung des Abends wird derweil größtenteils mit Texteinblendungen transportiert. Helgard Haug, bekannt als Teil des Kollektivs Rimini Protokoll, stellt dabei zwei Geschichten nebeneinander, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Das Verschwinden des Flugs MH370a im März 2014 und die Versuche der Aufklärung des Vorfalls werden verschnitten mit dem geistigen Verschwinden von Haugs Vater im Zuge seiner Demenzerkrankung. Schonungslos, poetisch - und nicht zuletzt dank der Musik tief bewegend.

humanistää!eine abschaffung der sparten (Quelle: Nikolaus Ostermann/Volkstheater)humanistää

Ausgelassener Jubel für Jandl-Dada

In Tashiki Okadas kurzer Groteske "Doughnuts" ist die Musik ebenfalls der unverzichtbare Motor der Inszenierung: Minimalistische repetitive Klänge unterstreichen die Sinnlosigkeit des sehr lustigen, mäandernden Geredes von fünf Teilnehmer:innen einer Konferenz, die in einer Hotel-Lobby auf ein Taxi warten. Auch die Eröffnungsinszenierung, Christopher Rüpings "Das neue Leben", wäre ohne den Musikeinsatz undenkbar. Noch Tage nach dem Abend hatte ich einen Ohrwurm von Danger Dans "Eine gute Nachricht", mit dem der Abend endet.

Der wahrscheinlich musikalischste Abend des Theatertreffens kommt vom Volkstheater Wien: "humanistää!" zelebriert die in ihrer sinnlichen Lautmalerei ohnehin schon hochmusikalischen, doppelbödigen Dada-Texte von Ernst Jandl unter Einsatz von Live-Musiker:innen im Orchestergraben. Sie bilden mit den Spieler:innen auf der Bühne ein so starkes Ensemble, dass es fast ein bisschen schade ist, dass einer von ihnen eine besondere Ehrung erfahren hat: Samouil Stoyanov wurde mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet.

Die absurden Choreographien auf der Bühne, die betonierten Maske und Kostüme und die Lust am höheren Blödsinn - all das ist sichtbar an den berühmten Volksbühnen-Inszenierungen von Herbert Frisch geschult - und entwickelt doch eine ganz eigene Sinnlichkeit. Regisseurin Claudia Bauer zeigt mit "humanistää!", dass große Theaterkunst nicht thesenschwer sein muss, um gehaltvoll zu sein - und dass sie auch ganz einfach darin bestehen kann, riesengroßen Spaß zu machen. Den hatte offenkundig auch das Berliner Publikum - so begeistert und ausgelassen hört man es nur sehr selten jubeln.

Queen und "Dirty Dancing"

Auch in den weniger musikgeleiteten Abenden der Auswahl ist Musik für die ganz großen Höhepunkte verantwortlich: Die Essenz von "Like Lovers Do", einer ungestümen Textfläche über Sex und Gewalt in der Regie von Pinar Karabulut, kommt in einer gesungenen Szene zum Tragen. Die Performer:innen singen da die drastischen Schilderungen auf die Melodie der "Dirty Dancing"-Power-Schnulze "(Ive Had) The Time of My Life".

Und selbst das klassischste Schauspieltheater der Auswahl, "Ein Mann seiner Klasse" vom Schauspiel Hannover, setzt zum Schluss ein musikalisches Ausrufezeichen: Die dicht inszenierte, pointiert gespielte und niemals kitschige Erzählung über Gewalt und Klassismus, endet mit dem aus der Tiefe des Raumes in die Stille gebrüllten Queen-Hit "I Want to Break Free".

Ein Mann seiner Klasse (Quelle: Katrin Ribbe)Ein Mann seiner Klasse

Hamburg-Altona statt Berlin-Wilmersdorf

Eine Produktion der Zehner-Auswahl fällt dagegen aus dem Rahmen - und das nicht nur, weil die Musik hier weniger wichtig ist als in den meisten anderen eingeladenen Inszenierungen: die gigantische Performance-Installation "Die Ruhe" vom Kollektiv Signa.

Die Arbeit ist so aufwändig, dass man sich nicht imstande sah, sie aus Hamburg nach Berlin zu transferieren. Die Festival-Idee des Theatertreffens, nämlich die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres aus dem deutschsprachigen Raum innerhalb von zweieinhalb Wochen in Berlin zu zeigen, ist damit natürlich untergraben. Daran ändert auch nichts, dass an zwei der Termine Bustransfers nach Hamburg angeboten wurden. Eine Entwicklung, die unbedingt die Ausnahme bleiben sollte.

Nun aber steht man also in Hamburg vor einem alten Paketpostamt - und taucht stundenlang in eine Welt ein, die so vollständig durchdacht und so detailliert ausgestattet ist, dass man am Ende kaum noch weiß, ob man nun gerade in Berlin-Wilmersdorf oder in Hamburg-Altona wieder ins Tageslicht taumelt.

Die Ruhe. Deutsches SchauSpielHaus Hamburg. Eine Performance-Installation von SIGNA. (Quelle: © Erich Goldmann)Die Ruhe

"Norbert, Hände waschen!"

In "Die Ruhe" wird das Publikum in Fünfergruppen aufgeteilt, man zieht sich Trainingsanzüge an und stapft auf zwei Etagen von Raum zu Raum. In einer Art Institut ist man hier gelandet, bevölkert von ehemaligen Mitarbeitenden und Patient:innen einer ominösen Klinik. Ihr gemeinsames Ziel: zur Ruhe zu kommen - und zum Wald zu werden.

Fünfeinhalb Stunden lang wird man Zeuge und Objekt einer Versuchsanordnung, wühlt in einem Haufen Erde, wirft Plastikaale durch den Raum, trinkt Obstler und Wodka - und sieht immer wieder Irritierendes, Unheimliches herannahen: Die esoterische Waldnatur-Utopie, die hier gelebt wird, ist im Kern finsterste Unterdrückungsherrschaft.

Die Performer:innen bleiben auch in den Pinkelpausen eisenhart in ihren Rollen. "Norbert, Hände waschen", wird ein Besucher angefahren, als er an den Waschbecken vorbei zurück auf den Flur eilen will. "Die Ruhe" ist ein immersives Großereignis - manchmal ein bisschen redundant und albern, aber alles im allen eine beeindruckend geschlossene, so verführerische wie unheimliche Theaterwelt.

"Die Ruhe" ist in ihrer verschwenderischen Begrenztheit (nur 35 Zuschauer:innen sind pro Vorstellung zugelassen) und dem irrwitzigen Aufwand sicher weit entfernt von dem, was der:die Durchschnitts-Zuschauer:in in den Lockdowns am meisten vermisst hat. Aber es ist eben auch eine Arbeit, die ganz besonders laut und deutlich ruft: Ja, das Theater lebt noch - live und vor Publikum.

Die zehn eingeladenen Inszenierungen

  • "All right. Good night. Ein Stück über Verschwinden und Verlust" von Helgard Haug (Rimini Protokoll) (Eine Produktion von Rimini Apparat in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Volkstheater (Wien), The Factory (Manchester), Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main), PACT Zollverein (Essen))
  • "Das neue Leben. Where do we go from here" (frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears) (Regie Christopher Rüping / Schauspielhaus Bochum)
  • "Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie" von Soeren Voima nach Molière und nach "Kapital und Ideologie" von Thomas Piketty (Regie Volker Lösch /Staatsschauspiel Dresden)
  • "Die Jungfrau von Orleans" Romantische Tragödie nach Friedrich Schiller in einer Bearbeitung von Joanna Bednarczyk (Regie Ewelina Marciniak / Nationaltheater Mannheim)
  • "Die Ruhe" Eine Performance-Installation von SIGNA Konzept (Regie Signa Köstler / Deutsches Schauspielhaus Hamburg)
  • "Doughnuts" von Toshiki Okada (Regie Toshiki Okada / Thalia Theater Hamburg)
  • "Ein Mann seiner Klasse" nach dem Roman von Christian Baron (Regie Lukas Holzhausen / Schauspiel Hannover)
  • "humanistää! eine abschaffung der sparten" nach Ernst Jandl (Regie Claudia Bauer / Volkstheater Wien)
  • "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)" von Sivan Ben Yishai (Regie und Choreografie Pinar Karabulut / Münchner Kammerspiele)
  • "Slippery Slope. Almost a Musical" von Yael Ronen, Shlomi Shaban und Riah Knight, Itai Reicher (Regie Yael Ronen / Maxim Gorki Theater Berlin)

Sendung: rbb24 Inforadio, 22.05.2022, 10:48 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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