Kritik | "Meistersinger", Deutsche Oper - Wagner polarisiert noch immer und immer wieder

An der Deutschen Oper kocht nach sechs Stunden ein Opernhaussaal mit knapp 2.000 Gästen: Ein für Wagnerverhältnisse erstaunlich kurzweiliger Abend mit einem Coup am Schluss. Die Meistersinger überzeugten Maria Ossowski restlos.
Wenn nach sechs Stunden ein Opernhaussaal mit knapp 2.000 Gästen kocht, wenn Buhs und Bravos sich ins Gekreische steigern, dann heißt das: Wagner polarisiert noch immer und immer wieder. Seine Meistersinger haben stumpfe Deutschtümelei, die Hitlerei, karge Nichts als Bühnenbilder, die Grundgesetzfragen als roten Faden, Superkitschplastikblüten, regnende Turnschuhe und Heldenbashing ertragen. Barrie Koskys grandiose Bayreuth-Story aus dem Hause Wahnfried übers Pogrom bis zum Nürnberger Gerichtshof setzte Maßstäbe.
Klaus Florian Vogt singt mit hell-strahlender, überragend-einzigartiger Stimme
Und jetzt an der Deutschen Oper Berlin der topaktuelle Schwenk an die Münchner Musikhochschule, den alten Führerbau der NSDAP, seit einiger Zeit in den Schlagzeilen wegen Machtmißbrauchs und Metoo-Skandalen. Das Regie-Trio Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito präsentiert jene Meister, die den Gesang beurteilen, gleichzeitig als Hochschullehrer im ollen Habitus.
Eilfertige Studenten, fiese Intriganten und geile Dozenten buhlen um die Währung in der Szene: Aufmerksamkeit, um Profil zu gewinnen und die eigene Karriere zu fördern. Was theoretisch bemüht modern und woke klingt, passt praktisch auf der Bühne erstaunlich gut. Stolzing ist der Newcomer, der Hochbegabte, vor dem alle Angst haben. Kein Wunder bei Klaus Florian Vogts hell-strahlender, überragend-einzigartiger Stimme.
Ein für Wagnerverhältnisse erstaunlich kurzweiliger Abend mit einem Coup am Schluss
Beckmesser hingegen ist blasser Durchschnitt, irre ehrgeizig, aber zu seinen Schauersongs rocken und tanzen die Studierenden, denn Philip Jekal aus Leipzig macht eine Riesenshow aus seiner verunglückten Performance, am Flügel, in der Aula.
Und der Gute, der edle Hans Sachs, bei Wagner ein verwitweter Nürnberger Schustermeister mit treudeutschem Getue, ist hier ein übler Intrigant. Der dänische Bariton Johan Reuter zeigt alle dunklen Seiten dieser Figur. Das Evchen der amerikanischen Sopranistin Heidi Stober ist ein hauchzartes Geschöpf mit hohem Ton. Gemeinsam im dritten Aufzug schaffen sie ein Gänsehautfeeling.
Ritter Stolzings Preislied schließlich reißt sie alle hin, die Hochschullehrer, die Studentinnen und Studenten und das Publikum.
Aus dem Graben erklingt ein Orchester, das wagnergestählt ist und kleine Unsicherheiten des Dirigats von Markus Stenz souverän ausgleicht. Der Chor dieses Hauses spielt und singt auf Weltklasseniveau. Insgesamt ein höchst unterhaltsamer, für Wagnerverhältnisse erstaunlich kurzweiliger Abend mit einem Coup am Schluss.
Das Liebespaar Stolzing und Eva hat keinen Bock auf deutsche Meister und verschwindet nach dem Studium einer Reiseroute im Zuschauerraum. Sachs preist seine Deutschen in gewohnt schrecklichem Text, die Hochschule legt ihm die Meisterkette um, Peng und Schluss. Bravo oder Buh? Hingehen und selbst entscheiden. Die Rezensentin ist jedenfalls restlos begeistert.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.06.2022, 6:55 Uhr