Theater | Tschechows Platonow am DT - Liebeswahn im Seniorenheim

Sa 24.09.22 | 12:03 Uhr
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Deutsches Theater: "Platonow" von Anton Tschechow © Arno Declair
Audio: rbb24 Inforadio | 24.09.2022 | B. Behrendt | Bild: Arno Declair

Tschechows Jugendstück über einen Don Juan wider Willen verlegt der junge russische Regisseur Timofej Kuljabin ins Altersheim. Das passt besser als vermutet. Von Barbara Behrendt

Die Witwe Anna Petrowna ist im Sessel eingenickt. Ihr Gehstock lehnt am Polster, die Stola ist ihr ein wenig von den Schultern gerutscht, aber das blonde Haar der vornehmen alten Dame sitzt perfekt. Am Tisch neben ihr löst der alte Wojnizew stumm Kreuzworträtsel. Anna schläft wie ein Stein oder – wie tot. Sodass, dieser Gag eröffnet den Abend, ihr Schach-Partner Triletzki seine Brille unter ihre Nase hält, um den Atem zu prüfen. Und dann, noch immer unsicher, fasst er den Puls an ihrer Hand und gibt ihr schließlich einen altherrenhaften Schmatzer auf die selbige.

Deutsches Theater: "Platonow" von Anton Tschechow © Arno Declair
| Bild: Arno Declair

Verliebtsein als Frischzellenkur

Die jungen Figuren aus Tschechows Erstling hat Timofej Kuljabin zu Greisen gemacht und in ein Seniorenheim für Schauspieler:innen einziehen lassen. Und so trägt auch das junge und mitteljunge Ensemble auf der Bühne tiefe Falten und schlaffe Wangen. Die Haare sind schlohweiß, die Rücken gekrümmt, die Brillengläser dick und die Schritte von Rollstuhl und Rollator abhängig.

Doch es ist nicht der Bluthochdruck, der ihre Herzen schneller schlagen lässt: Das Verliebtsein ist ihre Frischzellenkur. Und so ist die Ungeduld groß, endlich den früheren Kollegen Platonow in der Alten-WG begrüßen zu dürfen: Bei Alexander Khuon ein exzentrischer Spieler mit Seidenschal und weißer Hose, dessen agile Schritte ihn zehn Jahre jünger wirken lassen als seine Mitbewohner:innen. Auch er ist verliebt ins Herzklopfen und in die Illusion der ewig währenden Möglichkeiten. Die vier Damen der Inszenierung hängen sich an ihn wie an den Strohhalm, der sie aus der ewigen Wiederholung von Schach, Kreuzworträtsel, Mittagsschlaf und Abendbrot rettet.

Oberflächlich eine Jux-Idee, auf der Bühne entfaltet sie dramatische Wirkung

Höhepunkt des Herz-Schmerz-Wahnsinns ist eine Szene von Feydeau’scher Komik, als Platonow beim "bunten Abend", wenn die alten Künstler ihre Evergreens an Songs, Gedichten und Zaubertricks vorführen, in einer Tür-auf-Tür-zu-Mechanik eine Liebeserklärung nach der anderen abfeuert und absahnt.

Timofej Kuljabin hat schon häufiger Tschechow in ungewöhnliche Settings übertragen. In seiner berühmten Version der "Drei Schwestern" etwa ist kein Wort zu hören, die Schauspieler:innen kommunizierten ausschließlich in Gebärdensprache. Was im "Platonow" nun zunächst wie eine oberflächliche Jux-Idee wirkt – die jungen Lebenshungrigen zu Senioren zu machen – entfaltet auf der Bühne mehr und mehr dramatische Wirkung. Denn in jedem absurden Versuch des Aufbruchs, des neuen Lebens dieser Tattergreise ist die Angst vor dem Tod eingeschrieben. Immer verzweifelter krallen sie sich an Platonow, immer panischer wendet der sich ab von ihnen – um Sekunden später noch verzweifelter um Liebe zu betteln.

Abend sehelt handlungsarm und absehbar umher

Kuljabin hat eine klare Schneise in das fragmentarische Tschechow-Drama mit den zahllosen Themen geschlagen und sich auf das Liebesvakuum und die Einsamkeit der Menschen bis zum Tod konzentriert. Nicht nur der Mord an Platonow ist gestrichen, sondern auch alle Fragen zur Gesellschaftsordnung. Das ist konsequent, führt aber auch dazu, dass der Abend ziemlich handlungsarm und absehbar umhersegelt. Ein Vergleich mit der Isolation russischer Künstler in der Gegenwart ist, anders als der Regisseur im Programmheft nahelegt, nicht auszumachen.

Irritierend bleibt bis zuletzt die Besetzungsidee. Einerseits machen die Schauspieler:innen immer wieder deutlich, dass sie alte Menschen weder naturalistisch imitieren möchten noch sie parodieren. Andererseits wird hier Komödie gespielt und der Gehstock voller Zorn in die Luft gereckt, werden die Hände parkinsonhaft zum Zittern gebracht. Bieder und trutschig wirken die naheliegenden Alters-Zoten dann eben mitunter doch.

Trotzdem: Der Irrsinn des wahllos nach Liebe gierenden, leeren, verzweifelten Menschen wird einem an diesem Abend plastisch vor Augen geführt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.09.2022, 6.00 Uhr

2 Kommentare

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  1. 1.

    Erstaunlich, dass ein russischer Regisseur sein Stück aufführen darf. Verdammte Doppelmoral.

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