Kulturkritik | "Mutter Courage" im Maxim-Gorki-Theater - Es ist wieder Zeit für Helden

Mo 10.10.22 | 07:52 Uhr | Von Barbara Behrendt
Gorki Theater: Mutter Courage und ihre Kinder © Esra Rotthoff
Audio: rbb24 Inforadio | 10.10.2022 | Barbara Behrendt | Bild: Esra Rotthoff

Das Berliner Gorki-Theater zeigt eine Neuinszenierung von Brechts berühmten Anti-Kriegsdrama "Mutter Courage". Auch wenn dem Zuschauer viel Wissen abverlangt wird, überzeugt es als rasantes und bildstarkes Stück der Stunde. Von Barbara Behrendt

Sechs Frauen in Camouflage-Uniform gehen mit langsamen Schritten, die Last ist schwer: Hinter sich her ziehen sie Särge, auf jedem ein nackter toter Mensch, ein dürres Skelett, die Gliedmaßen unnatürlich verrenkt. Später werden sich Mutter Courage und der Regimentskoch die Hände am Feuer mit den brennenden Leichen wärmen.

Schon in der ersten Szene trifft Brechts beißender Sarkasmus wie eine Faust in den Magen, wenn Schauspielerin Cigdem Teke als Feldwebel die Kriegsmoral beschwört: "Hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll da Moral herkommen, frag ich? Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung."

Brecht-Stoff im Schnelldurchlauf

Dann steht sie vor ihr, Mutter Courage. Ihre Kriegswaren zieht sie nicht im Wagen, sondern sie trägt sie unterm Rock. Den weiten Schutzmantel kann sie sogar über ihre drei Kinder breiten, wenn der Feldwebel sie ihr abschwatzen und zu Kanonenfutter machen möchte. Mal wirkt dieser Mantel wie ein schützendes Spinnennetz, dann wieder wie ein rettender Fallschirm.

Doch viel Mitgefühl kann man mit dieser Courage nicht entfalten, alle paar Sätze streift sich eine andere der Schauspielerinnen, es ist ein reines Frauenteam, den Umhang über und spielt die Kriegsmarketenderin. Wie Jonglierbälle werfen sie sich die Rollen im fliegenden Wechsel durch die Luft. Brecht hätte das vielleicht gefallen – hatte er doch nach der Zürcher Uraufführung 1941 extra noch ein paar Szenen eingefügt, die Mutter Courage skrupelloser erscheinen lassen, um ja keine Einfühlung zuzulassen. Episches Theater war das Stichwort der Stunde.

Für die Inszenierung von Oliver Frljic, dem künstlerischen Co-Leiter des Gorki, wird das zum Problem: Man muss schon fest im Brecht-Sattel sitzen, um die Handlung zu verstehen. Bei so vielen Rollenwechseln und den starken Text-Kürzungen verliert man rasch den Überblick, wohin die Courage-Kinder verschwinden, wer lebt, wer stirbt und wer sich opfert.

Bedrückende Bilder und Botschaften für die Gegenwart

Trotzdem hängt man den Schauspielerinnen an den Lippen, weil Brechts Worte klingen wie der Kommentar zur kriegserschütterten Gegenwart, in der es wieder Helden braucht: "Wenn ein Feldhauptmann oder König recht dumm ist und er führt seine Leut’ in die Scheißgass, dann müssen sie lauter Herkulesse sein. Und, wenn er ein Schlamper ist und kümmert sich um nix, dann müssen sie klug wie die Schlangen sein, sonst sind sie hin. In einem guten Land braucht’s keine Tugenden, alle können ganz gewöhnlich sein, mittelgescheit und meinetwegen Feiglinge."

Oliver Frljic war noch nie ein Regisseur der Zwischentöne – bei ihm gibt es nur Schwarz, Weiß und die grellsten Farben. Das Laute und Grelle passt diesmal zu Brechts Lehrstück, das auch nicht eben subtil daher kommt. Das Bedrückendste der Inszenierung sind allerdings ihre Bilder. Leichen überall. Sie hängen als Puppen von der Decke, sie stapeln sich in Plastiksäcken auf dem Boden, sie werden wie Mehlsäcke von hier nach da geworfen. Einmal hält Maryam Abu Khaled eine tote Frau aus Stoff im Arm, die ihre eigenen Gesichtszüge trägt. Nicht nur der russische Angriffskrieg klingt durch diesen Abend.

Braucht unsere Gegenwart also wieder das Antikriegsstück mit klaren Parolen? Wie schrecklich virulent das alles ist, zeigt jedenfalls nicht nur Cem Özdemirs und Klaus Lederers Besuch dieser Premiere, sondern vor allem der Ruf, den die Schauspielerinnen in Solidarität mit den Frauen in Iran beim Schlussapplaus wieder und wieder skandieren: "Jin! Jiyan! Azadi!" – "Frau! Leben! Freiheit!"

Sendung: rbbb24 Inforadio, 10.10.2022, 6:55 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

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