Berliner Ensemble | Iran-Solidaritätsveranstaltung - "Wenn ihr nicht mehr hinseht, werden sie uns töten"

Di 29.11.22 | 08:52 Uhr
Sarah Sandeh (l-r), deutsch-iranische Schauspielerin, Djodjo Kasse, Musikerin, Meret Becker, Schauspielerin, Lulu Hacke, Musikerin, Melika Foroutan, Schauspielerin, und Jasmin Tabatabai, Schauspielerin, proben auf der Bühne für die Solidaritätsveranstaltung "Frau Leben Freiheit". Im Berliner Ensemble lesen Schauspielerinnen Texte aus und über den Iran aus verschiedenen Epochen und solidarisieren sich so mit den Protestierenden im Iran. (Quelle: dpa/A. Riedl)
Audio: rbb24 Inforadio | 29.11.2022 | B. Behrendt | Bild: dpa/A. Riedl

Mindestens 460 Menschen sind bei den Protesten im Iran bislang getötet worden. Die deutsch-iranischen Schauspielerinnen Melika Foroutan, Sarah Sandeh und Jasmin Tabatabei haben zu einer Solidaritätsveranstaltung mit Lesungen und Musik am Berliner Ensemble geladen. Von Barbara Behrendt

Bei den Protesten im Iran sind inzwischen mindestens 63 Kinder und Jugendliche vom Regime getötet worden, heißt es von Amnesty International. Ihre Namen werden am Montagabend bei einer Solidaritätsveranstaltung in Berlin von Melika Foroutan, Sarah Sandeh und Jasmin Tabatabei vorgelesen. Hinter den deutsch-iranischen Schauspielerinnen sind währenddessen auf einer Leinwand Fotos der Opfer zu sehen.

Fast jeder Platz im Berliner Ensemble ist besetzt - viele Exil-Iraner:innen sind gekommen, auch viele Deutsche ohne iranische Wurzeln, die ihre Solidarität zeigen möchten. Das Schweigen beim Verlesen der Opfer-Namen ist bedrückend.

Menschen sitzen im Berliner Ensemble bei der Solidaritätsveranstaltung "Frau Leben Freiheit". Im Berliner Ensemble lesen Schauspielerinnen Texte aus und über den Iran aus verschiedenen Epochen und solidarisieren sich so mit den Protestierenden im Iran. (Quelle: dpa/A. Riedl)
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"Welche Barbarei, denke ich"

Ähnlich erschütternd ist auch das Foto, das eingeblendet wird, als Schauspielerin Iris Berben aus Navid Kermanis Roman "Dein Name" vorliest. Sie wählt einen Auszug über die tatsächlich stattgefundene öffentliche Hinrichtung des iranischen Oppositionellen Madjid Kawussifar 2007. Auf dem Foto ist ein aufrechter Mann zu sehen, den Strick fest um den Hals wirft er ein warmes Lachen in Richtung seines Henkers. Berben liest: "Niemand schreitet ein, niemand empört sich. Welche Barbarei, denke ich. Nicht nur die Hinrichtung als solche, die ganze Situation. Eine moderne Großstadt, eine breite Straße, Asphalt und Bäume, Hochhäuser. Zwei Lastwagen mit Hebearmen. Allein der Haken so groß wie ein Kopf. Daran ein blauer Strick, Plastik, aus dem Baumarkt."

Gerade dieser Text zeigt, dass die Menschenrechte in Iran nicht erst seit dem Herbst missachtet werden, sondern die Bevölkerung seit der Gründung der Islamischen Republik 1979 mithilfe des Westens immer wieder aufbegehrt gegen das diktatorische Regime.

"Es sind keine Kopftuchproteste"

Voller Trauer, Schmerz, Wut und Emphase tragen die Frauen auf der Bühne iranische Literatur vom 12. Jahrhundert bis ins Heute vor. Doch manchmal sind es gerade die leisen Töne, die berühren. Etwa, wenn die Schauspielerin Meret Becker mit ihrer Tochter und deren Freundin zu ein paar wenigen Cello-Klängen die ewig wiederkehrende Zeile "Free for a Day" singt.

Der wichtigste Teil des dreistündigen Abends ist das Gespräch zwischen den Journalistinnen und Iran-Expertinnen Natalie Amiri und Isabel Schayani, bei denen Amiri einige glasklare Statements formuliert: "Es sind keine Kopftuch-Proteste. Und es geht auch nicht mehr um Reformen. Es geht um die Beseitigung der Islamischen Republik. Neu an den Protesten ist: Es sind alle auf der Straße, ein Querschnitt der Gesellschaft. Die Proteste sind nicht mehr zu stoppen; es ist ein Point of no Return erreicht."

Nach dem Sinn der Soli-Veranstaltung im Berliner Ensemble gefragt, zitiert Amiri eine Iranerin, die soeben nach Deutschland geflohen ist: "Ich fragte sie: Ist es denn wichtig, was wir hier machen? Habt ihr die Menschen in Berlin gesehen, die auf der Straße waren? Sie sagte: Wenn ihr nicht mehr hinseht, werden sie uns - jeden einzelnen - töten."

Ein Iran, der mit Israel befreundet ist

Außenministerin Annalena Baerbock wird ausdrücklich gelobt für ihre Initiative, den UN-Menschenrechtsrat mit einer unabhängigen Untersuchung zu betrauen. Doch wie soll es mit dem Iran weitergehen? Ein iranisches Mädchen gab Natalie Amiri per E-Mail folgende Antwort: "Was ist, wenn wir es schaffen? Dann würde es einen Iran geben, der befreundet wäre mit Israel. Dann bräuchte Israel weniger Waffen und Saudi-Arabien auch. Es gäbe keinen Krieg im Jemen. Irak könnte seine eigene Politik bestimmen. Die Hisbollah und die Hamas hätten keinen Finanzierer mehr. Russland hätte keine Drohnen und Mittelstrecken-Raketen mehr, die sie im Krieg gegen die Ukraine einsetzen. Putin hätte keinen Verbündeten mehr in der Region. Und man müsste sich nicht mehr fürchten vor einer Atombombe in den Händen der Mullahs. Und: Eine Frau wäre Präsidentin. Ihr erster Amtsakt: Sie geht nach Jad Vashem und legt dort einen Kranz nieder."

"Zan Zendegi Azadi ­– Frau Leben Freiheit"

Am Ende, wenn Jasmin Tabatabai den Song "Baraye" anstimmt, der zur Hymne der iranischen Proteste geworden ist, erklingen sie auch hier im Publikum, die Revolutionsrufe auf Farsi: "Zan Zendegi Azadi ­– Frau Leben Freiheit".

Hintergrund

Im Iran wird seit mehr als zwei Monaten gegen die Führung in Teheran protestiert. Auslöser war der Tod von Mahsa Amini am 16. September. Amini war von der Sittenpolizei festgenommen worden, da sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen haben soll. Aktivisten werfen den Behörden vor, Amini misshandelt zu haben.

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.11.2022, 06.00 Uhr

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