Konzertkritik | Viagra Boys - "Berlin ist immer geil, aber man kann sich nicht so recht erinnern danach"

Do 08.12.22 | 14:18 Uhr | Von Victor Buzalka
Sebastian Murphy, Sänger der Band Viagra Boys am 27.05.2022 in Kopenhagen, Dänemark. (Quelle: dpa/Gonzales Photo)
Bild: dpa/Gonzales Photo

Die schwedische Post-Punk-Band Viagra Boys macht im Astra Kulturhaus den tätowierten Bierbauch salonfähig. Außerdem im Programm: Verschwörungsmythen, Höhlenmenschen und jede Menge Sport. Von Victor Buzalka

Das Wochenende beginnt diese Woche am Mittwochabend im kaum beheizten, dafür aber lange ausverkauften Astra Kulturhaus: Zunächst erwärmt die Vorband Vulkano, bestehend aus drei elfenhaft wirkenden Musikerinnen, den Einlass ins Astra mit psychedelischen und rockigen New-Wave-Klängen. Und noch bevor sich das gut gelaunte, alters- und szene-mäßig völlig bunt gemischte Publikum im charmelosen Konzertsaal des Kulturhauses eingefunden hat, fängt die schwedische Post-Punk-Band Viagra Boys auch schon an, auf der Bühne zu toben.

Mit dem Song "Ain't No Thief" vom aktuellen Album "Cave World" zeigt das groovende Sextett aus Stockholm, was es mit Disco-Schlagzeug, dröhnendem E-Bass, Funk-Rock-Gitarre, Jazz-Saxofon, Pop-Synthesizern und provokantem Sprechgesang alles anrichten kann. Die Konzertbesucher:innen tanzen, lachen und grölen von Anfang an mit.

Diebstahl, ADHS und harte Drogen

Der charismatische Frontmann und Sänger der Viagra Boys, Sebastian Murphy, zieht sein Oberteil bereits beim zweiten und ganz treffenden Titel "Punk Rock Loser", aus und präsentiert - zur Freude des Publikums – seinen beinahe lückenlos tätowierten Oberkörper mit Bierbauch. Früher hat der gebürtige US-Amerikaner in Stockholm Fahrräder geklaut und tätowiert, um seinen Alkohol- und Drogenkonsum damit zu finanzieren. Heute leide er zwar noch an ADHS, aber die Band habe ihn gerettet und ihm einen neuen Fokus im Leben gegeben, sagt er.

Was Murphy auszeichnet, ist nicht nur seine einnehmende Bühnenpräsenz als kaputter Punkrock-Antiheld, der stets eine billige Sonnenbrille trägt und sein "Sterni"-Bier zwischendurch ins Publikum spuckt. Er schreibt tatsächlich sehr eingängige, irritierende und unterhaltsame Songtexte, die er mit seiner überreifen tiefen Kratzstimme rezitiert, schreit und singt. Auf seine Stirn hat er das schwedische Wort "lös" tätowiert, was so viel wie "locker / lose" bedeutet. Zweifellos ist er und hat er also eine Schraube locker – was der Genialität seiner Band jedoch nur zugute kommt.

Die Evolution des Menschen zum Höhlenmenschen

"Berlin ist immer geil, aber man kann sich nicht so recht erinnern danach", sagt Murphy. Er erklärt dem Publikum, er sei bei seinem letzten Aufenthalt in Berlin dank einer ganz speziellen Amphetamin-Diät noch ganz dünn gewesen, erst der jüngste Erfolg mit der Band habe ihn so fett werden lassen. Das Publikum nimmt seine Scherze und Anekdoten zwischen den Songs dankend an und beschmeißt ihn mit Feuerzeugen, Zigaretten, Lippenstiften und sonstigen Gebrauchsgegenständen, als er nach einer Kippe fragt.

So wird der Viagra-Auftritt zu einer Mischung aus Rock-Konzert, Comedy-Show und hypnotischem Rave – was die meisten Konzertbesucher:innen sicherlich bereits vor dem Konzert gelesen oder bei Konzertaufnahmen gesehen haben. Inhaltlich thematisiert der Sänger gerne seine ganz persönlichen Sucht-Probleme, Ängste und ihm unvergessliche Skurrilitäten aus dem Internet.

So arbeitet sich die Band mit dem neuen Album "Cave World" an den kruden Theorien der globalen "Querdenker"-Szene ab - und das mit jeder Menge schwarzem Humor. Der postmoderne Mensch entwickle sich, so vermutet Murphy, seit geraumer Zeit wieder zurück zum prähistorischen Höhlenmenschen. Und der Querdenker mit seinen haarsträubenden Verschwörungsmythen sei sogar zu blöde, um wieder in die Höhle zu finden.

Durch und durch selbstironisch und trashig

Die Band wurde 2015 in Stockholm gegründet und feierte bereits mit den ersten beiden Alben "Street Worms" und "Welfare Jazz" sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum bemerkenswert große Erfolge. Und so freut sich das Publikum über Viagra-Hits wie "Slow Learner", mit dem allen Sitzenbleibern und Außenseitern in der Schule ein Denkmal gesetzt wird.

Mit dem Kulttitel "Sports" besingen die Viagra Boys kurzsilbig, assoziativ und recht widersprüchlich Oberflächlichkeiten, die etwas mit körperlicher Ertüchtigung zu tun haben, dieser gegenüberstehen - oder aber auch gar nichts damit zu tun haben.

Überhaupt ist diese Band sowohl textlich, als auch musikalisch völlig überraschend und widersprüchlich. Zumal die Mitglieder der Gruppe aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen: Schlagzeuger Tor Sjödén und Saxophonist Oskar Carls sind Jazzer, der Keyboarder Elias Jungqvist spielt Experimental-Rock und Bassist Henrik Höckert stammt aus der schwedischen Hardcore-Szene. Gründungsmitglied Benjamin Vallé, der im Oktober 2021 überraschend im Alter von 47 Jahren starb, war Punk-Gitarrist.

Live sorgt die exotische Mischung aus sehr versierten und vielseitigen Musikern, gepaart mit bizarren Geschichten und skurrilem selbstironischem Humor für ein hervorragendes Konzerterlebnis. Am Ende verliert sich die Band in einem nicht-enden-wollendem Riff, das von Free-Jazz-Klängen aus Saxofon, Keyboard und Gitarre übertönt wird. Sowohl im Publikum, als auch auf der Bühne tanzen oder wippen alle mit. Und eines Tages werden die Viagra Boys mal im Berghain spielen. Aber daran kann sich jetzt schon keiner mehr erinnern.

Sendung:

Beitrag von Victor Buzalka

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