Lesung | Tobias Ginsburg im SO36 - "Euch wird das Lachen noch vergehen"
Tobias Ginsburg schleuste sich bei Reichsbürgern ein, bei Alternativen Rechten in den USA und bei Nazi-Rappern. Die Undercover-Erfahrungen hat er in seinem Buch "Die letzten Männer des Westens" zusammengefasst. Von Hendrik Schröder
Tobias Ginsburg macht keine ganz normalen Lesungen. Auch an diesem Abend im SO36 in Berlin-Kreuzberg nicht. Er kommt wie ein Stand-up-Comedian auf die Bühne: Atemlos erzählt er, was er heute vorhat und ist sehr lustig dabei. Die Leute lachen. Aber, sagt Tobias Ginsburg, "euch wird das Lachen noch vergehen, denn ich werde heute Abend von Leuten reden, die Begriffe wie Kulturmarxismus völlig normal finden, um zu beschreiben, was sie von Gendersternchen und Co halten. Ich werde von Neonazis, Frauenhassern und Neuen Rechten erzählen."
Bei all denen hatte er sich im Laufe von dreizehn Jahren schon eingeschleust. In seiner grünen Jogginghose, mit schwarzem Käppi, Oberlippenbart und Goldkettchen weiß man erst mal gar nicht, wo man ihn einsortieren soll. Und das ist vielleicht sein größtes Kapital. Mittelgroß, mittelbreit, mittelalt: Man kann sich gut vorstellen, wie er sich unscheinbar gibt, wenn er seine Undercover-Recherchen macht. Sein Verstand aber blitzt listig aus seinen Augen, wenn er erzählt - oder viel mehr performt.
Bier bei der faschistischen Burschenschaft
Recherchergebnisse mit Bühnenperformance zu vermischen kann vielleicht kein Autor derzeit so gut wie Ginsburg. Das Publikum weiß nicht, ob es lachen oder weinen soll, als Ginsburg erzählt, wie er sich als deutscher Jude bei einer faschistischen Burschenschaft in München einschleust, als Spähfuchs quasi eine Art Anwärter auf die Anwärterschaft. Bis die ersten Judenwitze fallen und der Holocaust verharmlost wird.
Er erzählt das so rasant und amüsant, dass man sich immer mal wieder daran erinnern muss, dass das eine wahre Geschichte ist und dass sie mitten in der Gesellschaft stattgefunden hat, nicht irgendwo weit weg.
Frauenfeindlichkeit als Klebstoff aller Rechten
Ginsburg ist eine Art Wallraff der neuen Generation, aber geschmeidiger und weniger moralinsauer. Für die Lesung an diesem Abend hat er sich seine Freunde, den Rapper Fatoni und den Comedian Hinnerck Köhn, eingeladen. In verteilten Rollen lesen sie aus Ginsburgs Buch, auch das eher im Stil von Stand-Up-Comedy oder Open Stage.
Interessant ist auch, wie Ginsburg dann ausführt, wie er bei seinen Recherchen immer wieder auf ein zentrales Motiv gestoßen ist, was die verschiedenen rechten Gruppierungen zusammenklebt: Antifeminismus, Frauenfeindlichkeit, die Angst davor, seine Männlichkeit zu verlieren. Nicht jeder Antifeminist sei ein Rechter, predigt er. Aber die Rechten hätten längst verstanden, dass sie mit diesen Themen die fragilen Männer einsammeln können, die es nur schwer verkraften, einen Teil ihrer Privilegien abzugeben.
Er erzählt von einem antifeministischen Kongress, auf dem 120 Männer der verschiedensten Gruppierungen flammende Reden hielten, warum der Mann mittlerweile der Unterdrückte sei. Bis einer behauptete, der Feminismus sei Schuld an der Shoa gewesen.
Ein bisschen weniger agitieren, bitte
Das Einzige, was bei allem Scharfsinn und Humor irgendwann ermüdet, ist die latente Predigerhaltung Ginsburgs. Das hat schon fast etwas Agitierendes. Aber er spricht im linken SO36 vor einem augenscheinlich deutlich links stehenden Publikum. Hier muss er keinen mehr überzeugen.
Man hätte lieber noch mehr seiner Erlebnisse gehört als die Analysen derselben. Sei es drum. Tobias Ginsburg ist ein beeindruckender Reporter, der dahin geht, wo sich nicht viele hintrauen. Und der dann noch weiß, wie man Leuten die Rechercheergebnisse unterhaltsam unter die Nase reibt. Gute Arbeit.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.12.2022, 8:30 Uhr