Konzertkritik | Anohni and the Johnsons - Performance, Politik - und so viel Liebe
Ein leises, aber inhaltlich lautes Open Air fand Dienstagabend in der Zitadelle Spandau statt: Ausnahmekünstlerin Anohni spielte nach acht Jahren wieder live in Berlin. Das Warten hat sich gelohnt. Von Magdalena Bienert
Die Sonne schafft es nicht mehr in den Innenhof der Zitadelle Spandau, es weht endlich ein laues Lüftchen und die Schlangen an den Bars sind ewig lang. Überraschenderweise ist die Zitadelle halb bestuhlt. Um 20:15 Uhr betritt die neunköpfige, weißgekleidete Band die Bühne (inklusive Streichern und Flügel), ein Fabel-Wesen, Johanna, mit weißem Umhang und Geweih beginnt zu tanzen, doch Menschen suchen noch ihre Plätze oder plaudern weiter.
Mucksmäuschenstill mit dem ersten Ton
Doch als Anohni plötzlich dasteht, wie eine Erscheinung, in schwarzem langen Kleid, und mit ihrer glasklaren und unverwechselbaren Stimme anfängt zu singen, ist es schlagartig ruhig. Dieser sehr leise, aber inhaltlich laute Abend nimmt seinen Lauf. Der Opener "Why am I Alive Now" stammt vom neuen und sechsten Studioalbum "My Back Was a Bridge for You to Cross". Das "New York Magazine" hat es zum Album des Jahres 2023 gekürt.
Weltschmerz, Weisheit, Weiblichkeit
Weltschmerz klingt zu profan für das, was die transidente Künstlerin auf ihrem Album umtreibt. Es sind eher Beobachtungen, wie unsere Ökologie den Bach runter geht und wir das sehenden Auges zulassen. Fragen, wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen.
Anohni wird an diesem Abend noch manche Ansagen machen, über die man nachdenken muss. Von kollektiver Weisheit und Verbundenheit, von Weiblichkeit als Ursprung für Leben, über ihre Bewunderung für Angela Merkel und deren Flüchtlingspolitik, hin zu dem Wissen der Deutschen um die eigene Vergangenheit. Und dazwischen sommerlich anmutende jazzige Lieder wie "It Must Change". Auch so ein Song, der leichtfüßig daher kommt, aber alles andere als das ist.
Konzert als Safer Space
Hier und da hören wir die Stimme von Marsha P. Johnson. Die New Yorker Dragqueen war Namensgeberin der Band und kam 1992 unter seltsamen Umständen ums Leben.
Dieser Abend erfordert also höchste Konzentration, aber für Berieselung ist das sehr aufmerksame Publikum eh nicht hier. Es hat die nötige Awareness, das Bewusstsein für die Themen, die Anohni mitbringt. Bis 2016 war die Künstlerin noch Antony und im Publikum spielen Geschlechterzuschreibungen eine eher untergeordnete Rolle. Die Zitadelle ist an diesem Abend ein safer space.
Summer of Love
Um halb zehn sind noch 26 Grad, die Bühne ist in Pastelltöne getaucht. Herbert Grönemeyer läuft durchs Publikum. Johanna tanzt noch einmal und als Zugabe gibt es nach fast zwei Stunden Anohni am Flügel. Bei dem berührenden "Hope There's Someone" von 2009 setzt großes Gruppenkuscheln ein.
Da schwebt so viel Liebe, so viel gegenseitiger Respekt durch die Zitadelle, dass man hofft, nicht wieder acht Jahre warten zu müssen, um diese Ausnahmekünstlerin erneut zu erleben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.07.2024, 6:55 Uhr