Joost Klein in der Columbiahalle - Ein niemals endender Vulkanausbruch

Der Niederländer Joost Klein war 2024 ein Favorit beim ESC. Kurz vor dem Finale wurde er jedoch disqualifiziert. Seine Karriere startete trotzdem durch. Jetzt ist er in der Berliner Columbiahalle aufgetreten. Jakob Bauer hat sich weg-bassen lassen.
Nach dem zweiten Eurovision-Songcontest-Halbfinale kam es im Mai 2024 in Malmö zum Eklat: Der niederländische Teilnehmer Joost Klein machte eine Geste in Richtung einer Kamerafrau, weil er, so sagt er es, nicht gefilmt werden wollte. Er traf anscheinend mit der Hand die Kamera. Die Kamera-Frau erstattete Anzeige, weil sie sich bedroht fühlte.
Die genauen Umstände sind bis heute nicht geklärt, ein Verfahren gegen Joost wurde aber eingestellt. Der ESC-Traum war für den Niederländer trotzdem geplatzt und er lässt ihn auch an diesem Abend in der Berliner Columbiahalle nicht los. Zu Beginn der Show laufen schnelle Zeitungs- und Videoausschnitte über die Leinwand, "Joost Klein disqualifiziert" ist da zu lesen und zu hören. Und dann stimmt er als ersten Song, wie sollte es auch anders sein, seinen ESC-Beitrag an: Die Europa-Hymne "Europapa".
Am Puls der Zeit – mit Windows 95
Jetzt könnte man denken: Joost Klein, ein "One-Trick-Pony", eine Eintagsfliege, er melkt die ESC-Geschichte und sein Image als enfant terrible, solange es eben geht. Aber nein. Dieser Typ ist gekommen, um zu bleiben. Denn die Stimmung und Energie, die er an diesem Abend in Sekunden erzeugt, mag zwar nicht jedermanns Sache sein, ist aber absolut am Puls der Zeit.
Alles ist in Nebel gehüllt, das Stroboskoplicht flackert, auf einer Kanzel stehen zwei DJs, unter ihnen eine große Leinwand. Auf der laufen Clips und Memes aus dem Internet, Bilder in trashigem 1990er-Style, absichtlich falsch geschriebene Sätze und Windows-95-Symbole – Relikte einer Zeit, als das Internet noch ungeschliffen und chaotisch war.
Heute sind diese alten Symbole Teil einer künstlerischen Spielwiese, auf der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen und neu interpretiert werden. Vor der Leinwand, vor diesen Symbolen: Joost Klein. Mit albernem Topfschnitt-Vokuhila und in einer Mischung aus Geier- und Engelskostüm tanzt er, stampft er, rappt, springt, schreit und singt er auf Deutsch, Niederländisch und Englisch zu seiner schnellen, harten Musik.
Vom kurzen digitalen Kick zum kollektiven Erlebnis
In der Popkultur ist diese Internet-Remix-Kultur gerade ziemlich groß. Alle möglichen Ästhetiken und kulturelle Referenzen werden da wild durcheinandergewürfelt, überzeichnet und neuarrangiert. Man sieht es auch im Publikum, wo Nietengürtel neben Trainingsjacken getragen werden, die eine hat ein Chicago-Bulls-Trikot an, eine andere ein Nirvana-Shirt, der nächste trägt Black Sabbath. Netzhemden, Sonnenbrillen, durchsichtige Plastik-Bauchtaschen, Glitzer auf Käppis und Augen.
Ein bunter Mischmasch, der auch der Musik zu hören ist: Da ist Hardstyle zu hören, Gabba, aggressiver Techno, viel Elektronik-Zeug aus den 1990er und 2000er Jahren. Aber auch Indie-Rock und ziemlich aktuelle poppige Refrains. Alles auf den maximalen Effekt gedreht, man könnte auch sagen: Die Songs kommen schnell zum Punkt.
Klar, man denkt auch an Social Media und den Trend zu immer kürzeren Videos. Daran, wie sich diese Ästhetik des kurzen Kicks auch in die Musik schleicht. Aber das hier ist eben Live-Musik und kein Bildschirm, das ist echt. Und umwerfend.
Tanzen zu 180 BPM
Joost schafft es dabei, Anheizer, Partygast und liebevoller Gastgeber zugleich zu sein. Unity (Einheit) ist sein Motto und das beschwört er auch immer wieder. Er holt mehrere Gastmusiker auf die Bühne und auch seinen Tanzcoach. Und eine Sache sollte man nicht unterschützen: Wie viele durchaus raffinierte Tanzarten es auch noch bei 180 Schlägen pro Minuten gibt – Joost zeigt mit großem Können einige davon.
Und er wird nicht müde. Und das junge, tanzwütige Publikum wird nicht müde. Und es ist kaum zu glauben, aber es wird immer noch wilder. Und noch lauter. Es ist wie einer dieser wochenlangen Vulkanausbrüche. Man denkt, jetzt muss sich das doch mal wieder beruhigen. Aber irgendwer dreht immer nochmal ein paar Bassfrequenzen rein und schiebt den Song nochmal zehn BPM höher. Und dann wird der denkende Teil des Hirns wegmassiert, nur der Tanz bleibt.
Es ist eine große gemeinsame Party. Nicht Joost auf der Bühne und die anderen da unten. Stattdessen wogt alles in einem stampfenden Kollektiv. "Wir haben versucht die Show so professionell wie möglich zu machen und trotzdem intim aufzuziehen", sagt er am Ende und spricht von Energie und Liebe im Raum. Worte, die man häufig von Künstlern hört. Joost Klein macht sie mit Wucht spürbar.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.03.2025, 6:55 Uhr