Berlinale-Filmtipps - Diese Filme aus Forum und Panorama lohnen sich

Sa 22.02.20 | 10:17 Uhr | Von Fabian Wallmeier

Vier mal Berlinale: Eine spannende Reflexion über Internet-Clips aus Nahost. Ein leise erzählter #MeToo-Film. Das Porträt einer Frau, die aus dem Raster fällt. Und eine originelle Doku über die Nachzüchtung des ausgestorbenen Auerochsen. Von Fabian Wallmeier

"The Viewing Booth" von Ra’anan Alexandrowicz | Forum

Pro-israelisch oder anti-israelisch? In "The Viewing Booth" setzt Ra’anan Alexandrowicz amerikanischen Studentinnen und Studenten Clips aus dem Internet vor, ohne ihnen zu sagen, aus welcher Richtung sie kommen. Er filmt sie dabei, wie sie sich den meist nur wenige Minuten langen Clips nähern, indem sie beschreiben, was ihnen durch den Kopf geht. Eine Studentin hat es ihm dabei besonders angetan.

Die junge Frau mit israelischen Wurzeln ist in ihren Äußerungen unverhohlen misstrauisch: Ein Clip, in dem israelische Soldaten nachts eine palästinensische Familie in ihrer Wohnung kontrolliert, löst in ihr etwa kein Mitleid mit dem weinenden Jungen aus, sondern lässt sie kühl über die Intentionen der Urheber mutmaßen.

Die spannenden Reflexionen, die Studentin und Regisseur anstellen, bekommen noch eine unerwartete zweite Dimension: Ein halbes Jahr später lädt er sie noch einmal in die "viewing booth" an - und lässt sie nun die Aufnahmen kommentieren, die er beim ersten Mal von ihr gemacht hat. Man möchte sie schütteln und staunt dann wieder, wie überzeugend manches von dem ist, was sie sagt. "The Viewing Booth" ist ein kluger, überaus an- wie aufregender Film, der Sehgewohnheiten, Eingenommenheit, Vorurteile, Manipulation und Filmautorschaft grundsätzlich hinterfragt.

"The Assistant" von Kitty Green (Panorama)

Jane ist morgens die erste im Büro und abends die letzte, die geht. Sie hat einen noch recht frischen Job als Assistentin in der Film- und Medienbranche und will vorankommen. Man sieht sie in Kitty Greens Spielfilmdebüt, wie sie zunächst banale Alltagsdinge verrichtet: alle Lichter im Büro anmachen, Kaffee kochen, Plastikwasserflaschen auspacken und bereitstellen.

Doch es mischen sich schnell Tätigkeiten darunter, die eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehören sollten: Sie sorgt dezent dafür, dass das Schmuckstück eines Callgirls, das am Vorabend im Büro ihres Chefs war, unauffällig wieder in die Hände der Besitzerin gelangt und reinigt die Couch des Chefs von den Flecken des Schäferstündchens.

Kitty Green, die zuletzt vor drei Jahren mit der klugen Doku "Casting JonBenet" im Panorama zu Gast war, erzählt all das nicht überdeutlich, sondern man muss sich die Geschichte nach und nach zusammenräumen. "The Assistant" ist ein Film über #MeToo, in dem Männer mal beiläufig, mal wütend schreiend ihre Vormachtstellung zementieren. Frauen sind selten mehr als Spielzeuge, jedenfalls so gut wie nie ebenbürtige Partnerinnen.

Julia Garner spielt die Rolle überaus zerbrechlich und duldsam - denn Jane weiß, was auf dem Spiel steht: dass sie diesen Job nur behalten wird, wenn sie sich unterordnet. Wenn sie sich von ihrem Chef am Telefon anschreien lässt und sich anschließend von ihren herzlosen männlichen Kollegen die richtigen Demutsformulierungen für ihre Entschuldigungsmail diktieren lässt. Green schenkt ihren Zuschauern keine Heldinnengeschichte, sondern sie zeigt ganz nüchtern, wie es im Kleinen und Großen läuft, wenn Männer im Arbeitsleben dominieren. Ein eindrücklicher Film, dessen ruhige und nüchterne Darstellung eines himmelschreienden Missstands durchaus Politisierungspotenzial hat.

"Her Name Was Europa" von Anja Dornieden & Juan D. González Monroy | Forum Expanded

Der Auerochse ist seit knapp 400 Jahren ausgestorben. Doch es gibt und gab Bestrebungen, ihn wieder auferstehen zu lassen, durch gezielte Kreuzungen verschiedener Rinderrassen. "Her Name Was Europa" geht zwei von ihnen nach: in den 1930er Jahren in Deutschland und heute in den Niederlanden.

Die Filmemacher besuchen einen Landwirt, der die Nachfahren der von Lutz und Heinz Heck gezüchteten Heckrinder bestellt. Und sie zeigen niederländische Forscher bei der Arbeit an einer eigenen Nachzüchtung. Dabei wirft der Film Schlaglichter auf Laborarbeit, zeigt einen Modellator beim Nachbau eines Auerochsen - und streift die Geschichte des Berliner Zoos: Lutz Heck war von 1932 bis 1945 dessen Leiter - und ein Jagdkumpane von Hermann Göring, der die Nachtzuchtbestrebungen der Hecks förderte.

Stilistisch ist "Her Name Was Europa" ungewöhnlich. Er ist im 4:3-Format in Schwarz-Weiß gedreht und erinnert mit seinen Zwischentafeln anstelle von Voice-Over-Texten an die Frühzeit des Stummfilms. Die allerdings kommen in computerbedruckten Klarsichtfolien daher, die von Hand vor einen hellen Hintergrund geschoben werden. Auch darüber hinaus spicken Dornieden und Monroy ihren Film mit filmdiskursiven Betrachtungen: Sie legen in aller Ruhe dar, wie ein Dreh an Schäden im Filmmaterial scheitert und wiederholt wird - und stellen die Ergebnisse beider Drehs nebeneinander.

Und sie erlauben sich eine herrlich nutzlose Abschweifung zu den "Tropical Islands", einem tropischen Freizeitpark in einer Traglufthalle im Landkreis Dahme-Spreewald. Dass ein Film gleichzeitig lehrreich ganz klassisch dokumtarfilmisch Wissen vermittelt und eine originelle künstlerische Position im Ausdruck bezieht, sieht man nicht oft - und hier besonders gern. Denn "Her Name Was Europa" ist nebenbei auch noch überraschend unterhaltsam.

"Anne at 13,000 ft." von Kazik Radwanski | Forum

Anne, eine Frau von Ende 20, ist immer ein bisschen mehr als die anderen. Sie lacht zu lang und zu laut, trinkt ein bisschen zu schnell, kommt niemals zur Ruhe, schreit ihre Mutter an, scheitert in möglichen Liebesbeziehungen.

Anne missachtet Grenzen, sagt nicht, was andere von ihr erwarten, weiß nicht, wann es besser wäre, nichts zu sagen. Bei ihrer Arbeit in einer Kita führt das zu Problemen. Statt den Kindern Grenzen aufzuzeigen, macht sie mit bei der Grenzüberschreitung, handelt genauso impulsiv wie die Kinder. Irgendwann liegt sie schreiend und weinend auf dem Dach der Kita, überfordert von allem, was von ihr erwartet wird.

Das Wunderbare an Kaki Radwanskis Film ist, dass er seine Protagonistin nicht zu psychologisieren oder gar pathologisieren versucht. Deragh Campbell spielt Anne mit einem hypernervösen Flirren, schaltet mit ihr blitzschnell zwischen den Gemütszuständen hin und her. Sie führt das Nervenbündel, das diese Figur ist, nicht vor, scheut aber auch nicht davor zurück, die schwer erträglichen Seiten zu zeigen. Der Film zeigt Anne mit wackeliger Handkamera aus nächster Nähe, macht sich dabei aber ihre Perspektive nicht zu eigen.

Radwanski organisiert die Szenen aus Annes Leben um einen zentralen Moment herum. Da geht sie Fallschirmspringen, überglücklich vom Sichfallenlassen. Für ein paar Sekunden schließt sie da die Augen, kurz sieht es aus, als sei sie ohnmächtig geworden. Dann ist sie wieder da, strahlt über das ganze Gesicht. Was da gerade passiert ist, erfahren wir nicht. Denn der große Vorzug dieses Films ist: Er versucht nicht, auf Teufel komm raus zu erklären, sondern er nimmt sich die Zeit, vorurteilsfrei hinzusehen.

Beitrag von Fabian Wallmeier

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