Berlinale startet - Ein Festival setzt Zeichen in Zeiten der Krise
Die internationalen Stars sind zurück auf dem roten Teppich, das Festival läuft wieder im Regelbetrieb. Doch die Weltlage ist seit der letzten Berlinale bedrohlicher geworden. Das politischste der großen Filmfestivals muss noch direkter darauf reagieren. Von Knut Elstermann
Die Lage im Iran und in der Ukraine - die Welt hat sich seit der vergangenen Berlinale radikal verändert. Der Jahrestag der russischen Aggression am 24. Februar fällt genau in diesen Zeitraum. Diskussionen, Solidaritätsaktionen und konkrete Hilfsmaßnahmen für ukrainische Filmschaffende werden diesen Jahrgang prägen, vor allem aber werden Filme über den Krieg in fast allen Sektionen zu sehen sein.
Ukrainekrieg spiegelt sich Berlinale-Beiträgen
Oscarpreisträger Sean Penn reiste vor einem Jahr in die Ukraine, um ein Porträt über den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu drehen. Dort wurde er vom Kriegsausbruch überrascht. Er entschloss sich zu bleiben, änderte umgehend sein Konzept und drehte nun einen völlig anderen Film. Sean Penn fuhr durch das Land, sprach mit Kämpfenden, mit Kriegsopfern und Geflüchteten. Er fragte sich selbstkritisch, warum er, wie viele andere, die Augen so lange vor der russischen Kriegsvorbereitung verschlossen hielt. Die Premiere seines Films "Superpower" als Berlinale Special Gala wird sicher zu den Höhepunkten des Festivals gehören.
Aber auch weniger spektakuläre, dokumentarische Projekte vermitteln einen Eindruck vom Leben im Krieg. Die polnischen Regisseure Piotr Pawlus und Tomasz Wolski fuhren bei Kriegsausbruch in die Ukraine und hielten Bilder des Alltags fest: neben einer Bushaltestelle explodierende Bomben, schutzsuchende Familien in den U-Bahnstationen, zerstörte Wohngebiete. "In Ukraine" erlebt im Forum der Berlinale seine Premiere. Während in der Welt ein Gewöhnungseffekt eintritt, holen die Filme die Opfer der Aggression in unser Blickfeld zurück.
Der iranische Film hat Tradition bei der Berlinale
Traditionell war Berlin immer ein guter Ort für die iranische Filmkunst. Filme von Asghar Farhadi (2011 Goldener Bär für "Nader und Simin – Eine Trennung") und Mohammad Rasulof (2020 Goldener Bär für "Doch das Böse gibt es nicht") wurden hier gefeiert und gingen von der Berlinale aus um die Welt. Der gerade auf Kaution freigelassene Regisseur Jafar Panahi, im Iran mit Arbeitsverbot belegt, wurde in Abwesenheit 2015 mit dem Goldenen Bären für seinen illegal gedrehten Film "Taxi Teheran" geehrt.
Die mutigen Massenproteste gegen das iranische Regime, die täglichen Verletzungen der Menschenrechte, der blutige Terror gegen die eigene Bevölkerung werden das zweite große Thema dieser Berlinale sein.
So setzt die Perspektive Deutsches Kino, unter der neuen Leitung von Jenni Zylka, gleich mit ihrem Eröffnungsfilm ein berührendes Zeichen: "Sieben Winter in Teheran". Mit zum Teil undercover gedrehtem Material zeichnet die deutsche Regisseurin Steffi Niederzoll den Kampf von Reyhaneh Jabbari um ihr Leben nach. Die junge, iranische Frau saß sieben Jahre im Todestrakt, nachdem sie in Notwehr einen Vergewaltiger getötet hatte. Dieser Film erinnert gerade in diesen Tagen auch an all jene, die im Iran von der unmenschlichen Todesstrafe bedroht sind. Die Schauspielerin Shole Pakravan wird bei dieser Berlinale zu Gast sein und über das kurze, mutige Leben ihrer Tochter Reyhaneh Jabbari sprechen.
Der französische Animationsfilm "La Sirène" erzählt von einem Jungen, der in der bombardierten irakischen Ölmetropole Abadan versucht, Menschen zu retten. Der poetische Film nimmt die Zuschauer mit in die Zeit des iranisch-irakischen Krieges. Mit der sehr beliebten Panorama-Sektion verleihen radioeins und rbb-Fernsehen auch in diesem Jahr wieder den renommierten Publikumspreis für den besten Spielfilm und den besten Dokumentarfilm.
Mit John Malkovich, Cate Blanchett, Helen Mirren, Anne Hathaway und Willem Dafoe haben sich in diesem Jahr internationale Stars angekündigt. Den Ehrenbären für sein Lebenswerk erhält Steven Spielberg.
Dennoch: Diese 73. Berlinale findet in schwierigen Zeiten statt, und das nicht nur auf politischer Ebene. Die Krisen schlagen durch, angestammte Festival-Orte wie der Potsdamer Platz veröden. Es gibt dort kaum noch Kino-Leinwände, auch das Cinemaxx, sonst ein beliebter Treffpunkt für das Publikum, steht für die Öffentlichkeit nicht mehr zur Verfügung. Ein stolzer Kartenpreis von meist 15 Euro pro Vorstellung dürfte in Zeiten der Inflation für viele Kinofans eine große Herausforderung bedeuten.
Filme mit literarischen Bezügen und tiefen Konflikten
In den Hauptwettbewerben sind viele unterschiedliche Handschriften und Sichtweisen vereint, darunter Filme aus Mexiko, Spanien und Portugal, Dokumentar- und Animationsfilme. Die Jury unter Kristen Stewart wird bekannte Regisseure wie Philippe Garell ("Le grand chariot" aus Frankreich) und Debütanten wie Celine Song ("Past Lives") zu bewerten haben. In vielen dieser Filme geht es um Familiengeschichten, um das Erbe, das uns ein Leben lang prägt, um tiefe Konflikte, aber auch um den Schutz, um die Geborgenheit. Berlin wird ein Fest des Arthouse-Films in seiner ganzen Vielfalt.
Deutschland stark vertreten im Wettbewerb
Allein im Hauptwettbewerb werden auch fünf deutsche Produktionen zu sehen sein. Viele dieser Filme haben in diesem Jahr einen literarischen Bezug. Emily Atef verfilmte den Bestseller der Leipziger Autorin Daniela Krien, ihr Romandebüt "Irgendwann werden wir uns alles erzählen". Mit dieser sommerlichen Liebesgeschichte in der ehemaligen DDR, in der Zeit des großen Umbruchs, der Hoffnungen und der Unsicherheit, kommen dann auch seltene, ostdeutsche Perspektiven auf die Berlinale-Leinwand.
Und die Wettbewerbsfilme sind…
Margarethe von Trotta erzählt eine der großen literarischen Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts in "Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste". Ingeborg Bachmann und Max Frisch, zwei junge, internationale Stars der Kulturszene, begegnen sich im Sommer 1958 in Paris. Es folgen vier Jahre einer großen Liebe und einer offenen Beziehung, eine Zeit voller Streit, Eifersucht und Leidenschaft.
Vom Leiden eines Autors erzählt Christian Petzold, der schon zum fünften Mal auf der Berlinale ist. Mit einigen seiner bevorzugten Darsteller wie Paula Beer und Matthias Brandt setzt er seine Trilogie über die Liebe fort. Nach "Undine" (Silberner Bär 2020 Paula Beer) kommt jetzt "Roter Himmel". In einem Sommerhaus an der Ostsee schreibt der Autor (gespielt von Thomas Schubert) verzweifelt am zweiten Buch, das immer das Schwerste ist. Dieses Beziehungsdrama, zugleich die Tragödie von blockierter Kreativität, steht vor einem Himmel, der sich rot färbt: Ein großes Feuer naht in diesem Sommer der existenziellen Erfahrung.
Woche der Kritik bietet noch mehr Programm
Im Forum der Berlinale macht sich der Dokumentarfilm-Meister Volker Koepp auf eine literarische Suche. Er erkundet in "Gehen und Bleiben" die Lebensspuren des Schriftstellers Uwe Johnson, des Schöpfers des großen Zyklus "Jahrestage". Ein dreistündiger Film, der literarische Landschaften und die Menschen, Geschichten, Erfahrungen und Inspirationen in eine anregende Beziehung bringt, wie sie nur Koepp erschaffen kann.
In dem ebenfalls dreistündigen Filmessay "Jeder schreibt für sich allein" fragt Dominik Graf höchst differenziert nach der Rolle von Autoren in der Nazi-Zeit, nach der Verantwortung des Schriftstellers und wirft dabei sehr aktuelle Fragen auf: Wie bewertet man das damalige Schaffen aus dem Wissen von heute? Kann man Werk und Autor trennen? Wie gehen wir um mit Schuld und Verstrickung? "Jeder schreibt für sich allein" läuft in der flankierenden Reihe "Woche der Kritik", die nicht zum offiziellen Programm der 73. Berlinale gehört.
Es könnte jedenfalls nicht nur eine sehr politische, sondern auch eine literarische Berlinale werden.
Sendung: rbb24, 16.02.2023, 13:00 Uhr