Fazit | Berlinale 2023 - Zwischen Kunst und Glamour

So 26.02.23 | 10:23 Uhr
Cate Blanchett, Nina Hoss und Sophie Kauer präsentieren den Film ''TAR'' auf der Berlinale. (Quelle: dpa/Marina Takimoto)
Audio: rbbInforadio | 26.02.2023 | Julia Vismann | Bild: dpa/Marina Takimoto

Der Berlinale-Wettbewerb 2023 war solider Durchschnitt. Ein paar der besten Filme haben verdiente Preise gewonnen, doch beim Goldenen Bären hat die Jury daneben gegriffen. Aufgegangen ist dagegen das Konzept, um mehr Stars nach Berlin zu bringen. Von Fabian Wallmeier

Der Goldene Bär für Nicolas Philiberts "On the Adamant": Was für eine seltsame Entscheidung der Berlinale-Jury! Der einzige Dokumentarfilm des Wettbewerbs zeigt das Leben in einer psychosozialen Tageseinrichtung auf einem fest verankerten Schiff, der Adamant, auf der Seine in Paris. Viele Menschen mit psychischen Problemen und Auffälligkeiten werden in Interaktionen gezeigt und erzählen aus ihrem Leben.

Manches davon ist bewegend, anderes erhellend, einiges redundant. Eine zweite Ebene oder eine Idee für eine über das reine Beobachten hinausgehende künstlerische Präsentation gibt es nicht. Einige Aufnahmen des Wassers und des Schiffs von außen etablieren den Ort - was aber drinnen zu sehen ist, hätte genauso gut in einer Tageseinrichtung an jedem anderen Ort passieren können. Freundlich gesagt ist es ein unspektakulärer Film, der sein zweifellos wichtiges Thema in den Vordergrund rückt und formale, künstlerische Fragen hintan stellt.

Hier kommen die Gewinner der begehrten Berlinale-Bären

Die richtigen deutschen Filme prämiert

Der Wettbewerbs-Jahrgang 2023 war insgesamt ein sehr durchschnittlicher. Richtig ärgerliche Filme gab es kaum, aber viel Mittelmaß - und auch ein paar herausragenden Filme. Bei den Silbernen Bären hat die Jury um Präsidentin Kristen Stewart dann auch einige erfreuliche Entscheidungen getroffen: Mit Christian Petzolds "Roter Himmel" (Großer Preis der Jury) und Angela Schanelecs "Music" (Bestes Drehbuch) wurden etwa die beiden richtigen deutschen Beiträge ausgezeichnet. Zwei auf sehr unterschiedliche Art herausragende Filme, die das merkwürdige Übergewicht an deutschen Wettbewerbsbeiträgen (5 von 19) fast schon rechtfertigt.

Andere Auszeichnungen sind weniger nachvollziehbar. Weder der Regie-Preis für Philippe Garrel und seine betuliche Familiengeschichte "The Plough" noch der Preis der Jury für das portugiesische Monstermütter-Drama "Mal viver" wirken zwingend. Und es ist schade, dass weder das epische Anime-Fantasy-Spektakel "Suzume" noch die intime, herzzerreißende Familienstudie "Tótem" mit Preisen bedacht wurde. Aber so ist das nun mal bei Festivals: Zu nörgeln gibt es immer genug.

Trans Figuren im Fokus

Für die Sichtbarkeit von trans Menschen und ihren Geschichten im Kino hat diese Berlinale einiges getan - auch in den Jury-Entscheidungen: Beide Schauspielpreise wurden für die Darstellung von trans Figuren verliehen: Die erst achtjährige Sofia Otero spielt in "20,000 Species of Bees" ein Kind auf der Suche nach seinem Namen und der eigenen geschlechtlichen Identität. Erstaunlich, dass das Festival einer wenn auch in ihrer Präsenz absolut überzeugenden, aber doch sehr jungen Darstellerin die Bürde auferlegt, die ein so großer Preis auch immer bedeutet.

An der Entscheidung des zweiten Schauspielpreises ist nur eines seltsam: Die trans Frau, die Thea Ehre in "Bis ans Ende der Nacht" spielt, ist eigentlich keine Nebenrolle, sondern eine zweite Hauptrolle. Sie trägt das durchwachsene Hybrid aus Krimi und Liebesfilm mit einem zu Herzen gehenden Optimismus, der einen leuchtenden Gegenpol zu all der Düsternis bildet, die der Film versprüht.

Noch ein dritter Film mit trans Figuren im Mittelpunkt gehört zu den großen Gewinnern des Abends. "Orlando, My Political Biography" von Paul B. Preciado, eine auch formal interessante Untersuchung des Romans von Virgina Woolf, erhielt in den Encounters den Spezial-Preis der Jury und zusätzlich eine lobende Erwähnung der Dokumentarfilm-Jury.

Zu klein oder zu fordernd für den Wettbewerb?

Den (vom rbb gestifteten) Dokumentarpreis selbst erhielt dann übrigens nicht etwa "On the Adamant", sondern ein weiterer Film aus den Encounters: "The Echo" von Tatiana Huezo, eine intime Studie des Lebens in einem abgelegenen Dorf in Mexiko - die dann gleich noch mit dem Regie-Preis der Encounters-Jury geehrt wurde.

Auch der Encounters-Jahrgang, der mittlerweile vierte seit der Einführung beim Amtsantritt des künstlerischen Leites Carlo Chatrian, war durchwachsen. Als Faustregel kann man bislang erkennen, dass in dieser Sektion mehrheitlich Filme laufen, die entweder zu klein oder zu fordernd sind, um im Wettbewerb zu laufen. Auf die beiden besten Filme der Auswahl trifft das allerdings nur bedingt zu: "The Adults" von Dustin Guy Defa ist ein enorm genau beobachteter Film über das Wiedersehen dreier Geschwister und ihre ganz eigenen Kommunikationsformen. Er hat eine Quirkyness und Leichtigkeit, die sich auch im Wettbewerb gut gemacht hätten.

Rätselhaft ist auch, dass der Wettbewerbs-Dauergast Hong Sangsoo, der erst im vergangenen Jahr für "The Novelist's Film" den Großen Preis der Jury gewann, dieses Mal in die kleinere Sektion ausgelagert wurde. "In Water" ist ein Wendepunkt im Schaffen des Koreaners. Die tiefe Traurigkeit, die sonst meist versteckt unter den hochkomischen Dialogen der Soju-Gelage seiner Protagonist:innen bleibt, liegt hier offen wie eine Wunde. Fordernd ist der Film über die Sinnkrise eines Regisseurs allerdings: Der nur 61 Minuten lange Film arbeitet durchgängig mit unscharfen Aufnahmen, was thematisch aber absolut konsequent ist - und den Film in ein erschütterndes Finale münden lässt.

Publikumswirksame Filme mit Staraufgebot

Ob eine Berlinale gelungen ist, hängt zumindest für die Macher:innen und einen großen Teil der Beobachter:innen auch von der Frage ab: Waren genug Stars da? Das kann man in diesem Jahr eindeutig mit Ja beantworten. Neben Jury-Präsidentin Kristen Stewart und Ehrenbär-Preisträger Steven Spielberg war viel weitere Filmprominenz zu Gast. John Malkovich, Helen Mirren, U2 oder auch Boris Becker - das Konzept der Sektion Berlinale Special ist in diesem Jahr so gut aufgegangen wie schon lange nicht mehr: publikumswirksame Filme zu zeigen, die sich nicht dem Wettbewerb stellen wollen oder können oder müssen, aber internationalen Startrubel in die Stadt bringen. Das macht zwar, wenn auch nicht in jedem Fall, eine seltsame Opposition auf zwischen Kunst im Wettbewerb und Glamour im Special, aber wenn es hilft, um alle Begehrlichkeiten zu stillen, die an das Festival gerichtet werden: Sei's drum.

Die hohe Zahl an internationaler Prominenz lässt die Entscheidung, "Tár" als Berlinale Special zu zeigen, umso peinlicher erscheinen: Einen Film, der im Konkurrenz-A-Festival Venedig im Sommer vorigen Jahres lief und für mehrere Oscars nominiert ist, kurz vor dem hiesigen Kinostart im Berlinale-Palast zu zeigen, nur damit auch Cate Blanchett über den roten Teppich laufen kann - das war absolut unnötig und unwürdig.

Glanz, Glamour, Missionen und Proteste auf der Berlinale

Sendung: rbb24 Abendschau, 26.02.2023, 19:30 Uhr

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