Berlinale-Retrospektive 2025 - Als das deutsche Kino mit offenen Augen die Gefahr suchte

Di 11.02.25 | 14:54 Uhr | Von Anke Leweke
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"Einer von uns beiden" mit Ortrud Beginnen, Jürgen Prochnow, Elke Sommer. (Quelle: Deutsche Kinemathek)
Bild: Deutsche Kinemathek/Beta Film

"Wild, schräg, blutig" - die Berlinale-Retrospektive blickt auf deutsche Genre-Filme der 1970er Jahre. Ein Kino, das mit Wucht auf die Leinwand drängte, vor blutigen Exzessen nicht zurückschreckte und die politischen Verhältnisse ins Visier nahm. Von Anke Leweke

1979: Ich war ein Teenager und im Fernsehen lief ein Film namens "Fleisch". Er irritierte mich aus mehreren Gründen. Ein Action-Thriller mit einer weiblichen Hauptfigur, gedreht von einem deutschen Regisseur, aber er spielte in den USA. Und er machte Angst.

In der Wüste von New Mexico wird eine junge deutsche Frau (Jutta Speidel mit blonder Mähne) von einem Krankenwagen mit heulenden Sirenen gejagt. Im Fahrzeug befindet sich bereits ihr gekidnappter Ehemann (Herbert Herrmann). Regisseur Rainer Erler experimentiert mit den Formen, Motiven, Modulen des US-amerikanischen Genre-Kinos. Sein Roadmovie führt quer durch die USA nach New York, die Verfolgungsjagden durch die weite Landschaft erinnern an einen Western. Thematisch greift "Fleisch" die damalige deutsche Debatte um den Mangel an Organspenden auf, die auch in einem Song angeschlagen wird ("How much is anyone worth? What would you pay for a man?"). Bei einer effektvoll montierten Verfolgungsjagd über einen vielbefahrenen Highway fliegt das Auto der kriminellen Ärztin Doctor Jackson von der Fahrbahn und überschlägt sich.

Gewalt, Sex, Gier - mit Wurzeln in den Zwangzigerjahren

"Fleisch" weckte die Sehnsucht nach Filmen, die mit offenen Augen die Gefahr suchen, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, in die Kurve brettern und dabei von elementaren Dingen erzählen: Verbrechen, Gewalt, Sex, Gier.

Die Retrospektive der 75. Berliner Filmfestspiele feiert ein Kino, das mit ungefilterter Wucht auf die Leinwand drängte, vor blutigen Exzessen nicht zurückschreckte und die politischen Verhältnisse ins Visier nahm. Es wirkte wie ein Verwandter des New Hollywood-Kinos jener Jahre, doch seine Ursprünge finden sich im Filmschaffen der Weimarer Republik.

Fritz Langs "Metropolis (1927) war einer der ersten Science-Fiction-Filme, Friedrich Wilhelm Murnau "Nosferatu" (1922) gilt als der Ursprung des Horrorfilms, "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920) war Fantasy.

Das deutsche Kino konnte Genre, noch bevor es den Begriff überhaupt gab. Doch dieses vielschichtige Schaffen wurde von den Nationalsozialisten zerstört, viele Künstlerinnen und Künstler wurden verfolgt und ins Exil getrieben.

Collage: "Nelken in Aspik" von Günter Reisch mit Armin Mueller-Stahl; "Jonathan" von Hans W. Geißendörfer; "Einer von uns beiden" mit Elke Sommer. (Quelle: DEFA-Stiftung/Rudolf Meister/Kinowelt/Beta Film/Deutsche Kinemathek)

Genrefilme mit ganz eigenem Blick auf Deutschland

In den 1970ern, als sich das Neue Deutsche Kino mit der Generation der Väter beschäftigte, war plötzlich auch der Genrefilm mit seinen ganz eigenen Blicken auf Deutschland wieder da.

In "Blutiger Freitag" (1972) spielt der spätere "Seewolf" Raimund Harmstorf einen Kriminellen, der nach einem Gefängnisausbruch mit einer zusammengewürfelten Truppe (unter anderem ein italienischer Gastarbeiter und ein Bundeswehrdeserteur) einen Bankraub verübt. Die Sache eskaliert. Zwischen Geiselnahme und schonungsloser Gewaltdarstellung blitzen gesellschaftliche Themen auf: Rassismus, Kapitalismuskritik, die frühen Aktionen der RAF.

Auf charmante Weise erzählt Rudolf Thome in seinem schwarzweißen, in Cinemascope gedrehten Krimi "Fremde Stadt" (1974) von Umverteilung und anderen 68er-Ideen. Auch hier gibt es einen Banküberfall, doch die Waffen werden eher spielerisch eingesetzt. Schwebend denkt das Genre-Kino über sich selbst nach.

Noch ein Highlight: In "Einer von uns beiden" inszeniert Wolfgang Petersen seine Stars Klaus Schwarzkopf und Jürgen Prochnow als unerbittliche Gegner. Ein Studienabbrecher (Prochnow) entlarvt einen Professor (Schwarzkopf) des Plagiats und erpresst ihn. Abgerissene Kreuzberger Wohnungen und die Villa am Wannsee, Kiez-Kneipen und das Kranzler-Eck am Ku’damm - und ein Thriller, der zum brutalen packenden Psychoduell wird. Sieben Jahre später drehten Petersen und Prochnow gemeinsam den Welterfolg "Das Boot", beide gingen nach Hollywood.

Getanzte Subversion

Auch Armin Mueller-Stahl wurde in den Staaten zum Star. Es ist ein schöner Nebeneffekt dieser Retrospektive: Man lernt Schauspielerinnen und Schauspieler aus Ost und West von überraschenden Seiten kennen. In der DDR -Komödie "Nelken in Aspik" (1976) sorgt Mueller-Stahl als talentloser, dafür ständig quasselnder Werbezeichner für Chaos im Kadersystem. Hemmungslos stolpert er in Slapstick-Szenen, macht sich als Bruchpilot im weißen Kittel zum Dödel. Sein genialischer Plan lautet, alle Werbung in der DDR durch weiße Flächen zu ersetzen.

Dass man mit Klamauk, Tanz and Gesang die Subversion feiern kann, beweisen aufs Schrillste die Defa-Beiträge im Programm. In Horst Bonnets opulenter Operette "Orpheus in der Unterwelt" frönt man dem Nichtstun sowohl im Olymp als auch im Hades im 70mm-Breitwandformat. Statt Planerfüllung gibt es Orgien und Cancan, Rolf Hoppe spielt Jupiter mit verrutschtem goldenen Lorbeerkranz, und sogar "Maître" Jacques Offenbach schwebt im Fesselballon zur DDR hinab.

Auch das lässt uns diese Retrospektive mit 15 Filmen quer durch alle Genres miterleben: Mentalitäten, Lebensgefühle, gesellschaftliche Schwingungen - und ein Land, das sich auf unfassbar unberechenbare, eigensinnige Weise im Kino betrachtet.

Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der Siebzigerjahre

Sendung: Radioeins, 17.02.2025, 09:10 Uhr

Beitrag von Anke Leweke

3 Kommentare

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  1. 3.

    Mir fehlt hier Uwe Frießner, der mit „Am Ende des Regenbogens“ und (etwas später) „Baby“ ebenfalls Genre machte, oder auch entwarf. Diese Werke gehen über Verbrechen, Sex, Gewalt, Gier hinaus und beleuchten Authentizität, Hilflosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, Traumata.

  2. 2.

    Diese Retrospektive beschäftigt sich absichtlich nicht mit Mainstream-Bestseller-Verfilmungen à la Simmel, sondern mit für die deutsche Filmlandschaft ungewöhnlich gewagten Filmen, die heute aufgrund ihrer gewissen Andersartigkeit durchaus Kultstatus genießen.

    Vergleich Sie mal bspw. die Roland Klick Filme "Supermarkt" und "Lieb Vaterland magst ruhig sein" miteinander. Dabei wird deutlich, wie einer der m. E. besten dt. Regisseure sein Potenzial ausschöpfen konnte, wenn er mehr oder weniger frei von Zwängen agieren durfte. Wobei Klicks Simmel Verfilmung nat. auch seine Meriten hat.

  3. 1.

    Mich wundert es das mit keinem Wort auf die Filme nach Mario Simmel eingegangen wird, denn diese Filme haben auch den Zeitgeist getroffen wie z.B. Lieb Vaterland magst ruhig sein oder Jonny ging zum Regenbogen oder Alle Menschen werden Brüder.

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