Berlinale-Filmkritik | "Tótem" - Ein Haus voller Liebe und Leben

Mo 20.02.23 | 17:23 Uhr | Von Fabian Wallmeier

Eine Familie und Freund:innen kommen, um den vermutlich letzten Geburtstag des schwer kranken Tona zu feiern. Lila Avilés' herzerwärmender Wettbewerbsfilm "Tótem" ist frei von Kitsch, liebevoll beobachtet und durch und durch lebensbejahend. Von Fabian Wallmeier

Ein Mädchen mit traurig-nachdenklichem Blick auf die Kerzen einer Geburtstagstorte: Das Plakat zu "Tótem" zeigt eine der letzten Szenen des Films. Gefeiert wird nicht der Geburtstag des Mädchens Sol, sondern der ihres Vaters Tona. Doch gefeiert wird auch ein Abschied: Tona ist so krank, dass er möglicherweise keinen weiteren Geburtstag erleben wird. "Ich wünsche mir, dass Papa nicht stirbt", sagt Sol ganz zu Beginn zu ihrer Mutter. Das Schweigen der Mutter sagt alles: Es wird nicht gut ausgehen.

Lila Avilés Wettbewerbsbeitrag spielt in Tonas Elternhaus, gezeigt wird der Tag von den Vorbereitungen bis zur Feier am Abend. Sols Mutter setzt sie hier zu Beginn ab, bei den Schwestern, Nichten und dem Vater des Vaters. Sol streift, während die Mutter unterwegs ist, durch das Haus, hört hier ein Gespräch mit, wird da liebevoll begrüßt. Es ist ein Haus voller Menschen, voller Liebe und Leben. Überall stehen Pflanzen, in denen Schnecken und Grashüpfer leben, auf der Tapete krabbeln vereinzelt Ameisen, ein Papagei krächzt, eine kleine Katze streunert umher, Hunde wollen gestreichelt werden.

Unmittelbare Intimität

Ob sie denn nun endlich zu ihrem Vater dürfe, fragt Sol immer wieder - und wird immer wieder vertröstet. Der müsse sich ausruhen für die Feier am Abend, sagen die Tanten liebevoll. Also wartet Sol, vertreibt sich die Zeit im Kreis der Verwandtschaft. Die Kamera begleitet sie mal offensiv, dann wieder nimmt sie sich zurück, beobachtet das in traurige Gedanken versunkene Mädchen auch mal durch den Spalt zwischen zwei Sofakissen. Wenn die Kamera den Blick der Kinderdarstellerin Naíma Sentíes einfängt, kann einem das leicht das Herz brechen. Das heute nur noch selten genutzte Format 4:3 verstärkt die unmittelbare Intimität dieser Szenen im Haus.

"Totém" bleibt nicht vollständig bei Sol. Es gibt auch Szenen, in denen ihre Tanten oder ihr Großvater im Mittelpunkt stehen. Avilés zeigt die Frauen und ihre eigenen Sorgen und Probleme mit sanftem Witz. Die eine Schwester trinkt zu viel, was sogar deren kleine Tochter ausspricht. Die andere neigt zum Bestimmen und Reinreden und sorgt sich, weil das Geld für Tonas Therapien langsam knapp wird.

Im Sterbebett der Mutter

Die größte Nebenfigur ist aber Sols Vater Tona (Mateo García Elizondo). Das Bett, in dem er liegt, ist das Bett, in dem vor nicht allzu langer Zeit seine Mutter an Krebs gestorben ist. Und in dem, daran lässt der Film keine Zweifel, auch er sterben wird. Tona verbringt den Tag zunächst nur mit der Haushälterin und Freundin der Familie Cruz, denn allein kann er vieles nicht mehr. Nur mit Mühe gelingt es ihm zu duschen. Es dauert einige Stunden, bis er sich in der Lage sieht, Sol zu empfangen. Doch dann wird das Wiedersehen umso inniger.

Auch die Spiritualität kann gegen den nahenden Tod nichts ausrichten. Avilés nimmt sie auch weniger ernst als ihr prominent platziertes Anklingen im Titel "Tótem" vermuten lässt. Die Geisteraustreibung etwa, für die Sols Tante eine allerlei Unsinn redende Quacksalberin ins Haus holt, ist die lustigste Szene des Films. Mit einem brennenden Brötchen am Stock will sie die bösen Geister ausräuchern. Als sie am Ende den Preis erhöht, weil sie sich sehr verausgabt habe, lässt die Tante das mit wissendem Blick über sich ergehen.

Tótem (Wettbewerb)

In weiteren Szenen nehmen andere, tief im mexikanischen Volksglauben verwurzelte Rituale einen gewissen Raum ein - aber letztlich sind sie nur Ausdruck etwas zutiefst Menschlichem: Wenn Tona stirbt, dann wird er von viel Liebe umgeben sein. Die Feier am Abend, zu der er sich trotz seiner Kraftlosigkeit noch aufraffen kann, ist Ausdruck dieser großen Liebe seiner Familie und Freund:innen.

Emotionaler als das Debüt

"Tótem" ist der zweite Film der Mexikanerin Lila Avilés - und ein ganz anderer als das Debüt. In "The Chambermaid" zeigte sie recht kühl und mit feinem Witz das Leben einer Hotelangestellten. Ein kluger Film über all die unterdrückten Emotionen einer Servicekraft, deren Aufgabe darin besteht, möglichst unsichtbar im Hintergrund ihre Arbeit zu verrichten. In ihrem zweiten Film zeigt sie, dass sie auch einen ganz anderen Ton treffen kann. Sie weitet den Blick: mehr Protagonist:innen und Perspektiven und nicht zuletzt mehr Wärme machen "Totém" zu einer viel unmittelbareren emotionalen Erfahrung.

Eine Parallele gibt es aber doch: Auch in "Tótem" gibt es eine Angestellte: Cruz, die schon seit Jahrzehnten im Haus ein und auszugehen scheint, ist Tonas intimste Vertraute. Sie pflegt und versorgt ihn, ist in seinen schwersten Stunden bei ihm. Doch dass sie seit zwei Wochen kein Geld mehr bekommen hat, daran muss sie Tonas Schwester dezent erinnern. Ein kleines, aber wichtiges Echo der Themen des Debütfilms: Wenn es ans Sterben geht, dann werden da möglicherweise Menschen sein, deren Job es ist, uns zu pflegen. Und diese Menschen wollen wertgeschätzt und nicht zuletzt auch bezahlt werden.

Beitrag von Fabian Wallmeier

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