Berlinale-Filmkritik | "Mal Viver" und "Viver Mal" - Von Müttern und anderen Monstern
João Canijo zeigt zwei zusammenhängende Hotel-Filme: "Mal Viver" im Wettbewerb, "Viver Mal" in Encounters. Die Familiendramen sehen gut aus, sind aber nicht für sich genommen und erst recht nicht als Gesamtkonstrukt ein echtes Ereignis. Von Fabian Wallmeier
Ein Hotel-Pool in der Dämmerung. Eine Frau kärchert den Beckenrand, eine andere taucht übellaunig aus einem Liegestuhl auf und empfängt eine dritte, junge Frau, mit einer tristen Umarmung.
Herzlich willkommen in der traurigen Welt von "Mal Viver" und "Viver Mal", den Filmen, die der Portugiese João Canijo im Wettbewerb und in den Encounters vorgestellt hat. Beide spielen in einem etwas heruntergekommenen Hotel und behandeln schmerzhafte familiäre Verflechtungen, beide sind langsam erzählt und beide sind dabei psychologisch eher grob gestrickt. "Mal Viver" (Wettbewerb) fokussiert sich auf die fünf miteinander verwandten Frauen, die das Hotel betreiben. "Viver Mal" zeigt, was zur selben Zeit bei den Hotelgästen passiert.
Geradezu Gemälde-Qualitäten
Visuell sind beide Filme wirklich schön. Die präzisen Einstellungen, mit denen das Hotel von außen eingefangen wird, stellen seine Schmucklosigkeit aus und zeigen, dass offenkundig seine beste Zeit schon länger zurück liegt. Innen aber dominieren warme Pastelltöne, die dem nicht mehr ganz frischen eine einladende, fast edel wirkende Patina verleihen. Die Bildausschnitte, mit denen vor allem im ersten Teil die Frauen in ihren Interaktionen eingefangen werden, sind klug gewählt und entwickeln in ihren besten Momenten geradezu Gemälde-Qualitäten.
Leider halten die Filme weder inhaltlich noch in ihrer Verschränkung als zwei korrespondierende Einzelwerke wirklich, was sie visuell versprechen. Vor allem beim Encounters-Beitrag "Viver Mal" hat Canijo sich verhoben. Als Vorbilder stehen hier unverkennbar der schwedische Meister des markerschütternden Psychodramas, Ingmar Bergman, und der ebenfalls schwedische Großschriftsteller August Strindberg Pate.
Monströse Mutterfiguren
Die Strindberg-Dramen "Mit dem Feuer spielen", "Der Pelikan" und "Mutterliebe" betiteln die drei Teile, in die "Viver Mal" aufgeteilt ist. Und keins davon erreicht in der plakativ ausgestellten, bodenlosen Boshaftigkeit der Protagonist:innen eine Tiefe, die Strindberg auch nur nahe käme.
Im ersten Teil des Films streitet sich ein Paar darüber, wie sehr die Mutter des einen sich in sein und das gemeinsame Leben einmischen darf. Im zweiten bringt eine Mutter ihre Tochter mit ihrer herrisch-kalten Herab- und Zurechtweisung zum Weinen. Anschließend schläft sie mit dem Mann der Tochter. Und im dritten Teil will eine andere Mutter ihrer Tochter in die Karriere hereinpfuschen, um ihre eigene zu kompensieren, und einen Keil zwischen die Tochter und deren Partnerin treiben.
Diese in ihrer kühl kalkulierten Beiläufigkeit umso monströseren Mutterfiguren finden ihre Entsprechungen auch im anderen, strukturell freier gestalteten Film: Der Wettbewerbsbeitrag "Mal Viver" behandelt im Kern zwei Mutter-Tochter-Konflikte unter den Betreiberinnen, die sich am Rande des Hotel-Alltags entfalten: Zum einen geht es um Salomé (Madalena Almeida) und ihre Mutter Piedade (Anabela Moreira) und zum anderen um Piedade und deren Mutter Ângela (Vera Barreto).
Ins Bett darf nur der Hund
Salomé ist die junge Frau, die zu Beginn des Films nach längerer Abwesenheit ins Hotel ihrer Familie zurückkehrt. Sie trauert um ihren Vater, zu dem sie erst in den letzten Jahren seines Lebens eine Beziehung aufgebaut hat. Mutter Piedade ist offenbar psychisch krank und nicht in der Lage, ihrer Tochter Empathie entgegen zu bringen. Einmal legt die Tochter ihren Kopf auf den Schoß der Mutter. Die hält eine gefühlte Ewigkeit ihre Arme weiter verschränkt, um dann unbeholfen ihren Kopf zu betasten wie ein unbekanntes Objekt.
Die Tochter fragt irgendwann, ob sie heute Nacht bei der Mutter schlafen könne. Die macht das bisschen Annäherung gleich wieder kaputt. "Alma schläft bei mir", antwortet sie kühl. Alma, der Schoßhund, der sich den ganzen Film über so gut wie nicht bewegt, ist ganz klar wichtiger als die Tochter.
Woher dieses gestörte Verhältnis kommt? Natürlich aus dem gestörten Verhältnis zwischen Piedade und ihrer eigenen Mutter. Ângela ist noch um einiges boshafter als Piedade. Die legt sich einmal im Bett ihrer Mutter ans Fußende und weint bitterlich. Doch die bleibt ungerührt liegen, fängt irgendwann an sie zu beschimpfen und zu verprügeln. All diese Konflikte brechen auf, bleiben aber ungelöst - genauso wie die geschäftlichen Schwierigkeiten, in denen das Hotel offenbar steckt. Die werden zwar hier und da angerissen, der Film schert sich aber nicht weiter darum, sondern kehrt schnell zu den privaten Monstrositäten der Betreiberinnen zurück.
Hotel-Filme fast ohne Begegnungen
Wie nun korrespondieren die beiden Filme miteinander? Der Clou ist letztlich die Gleichzeitigkeit des Geschehens auf der Ebene der Betreiberinnen und auf der Ebene der Hotelgäste. Schaut man nur einen der beiden Filme, wundert man sich wahrscheinlich, warum manchmal so laut zu hören ist, was irgendwo außerhalb der eigentlichen Szene gesprochen wird. Und warum das so prominent eingefangene Außerhalb aber im Inneren der Szene kaum registriert wird. Wenn zum Beispiel die Betreiberinnen im Hintergrund immer wieder "Alma" schreien (auf der Suche nach dem verschollenen Schoßhund, wie man aus dem anderen Film weiß), löst das kaum etwas bei den Gästen aus.
Überhaupt scheint Canijo stark darauf bedacht zu sein, die Figuren so wenig wie möglich aufeinander treffen zu lassen. Das hat die kuriose Folge, dass ausgerechnet in zwei miteinander so eng in Verbindung stehenden Hotelfilmen so gut wie keine Interaktionen zwischen Hotelbetreiberinnen und Hotelgästen zu sehen sind. So wie es etwa in "The White Lotus" der Fall ist: Die in einem Luxusressort angesiedelte amerikanische Serie zieht einen großen Teil ihres Charmes gerade daraus, dass die Geschichten der versnobten Gäste und des Personals parallel montiert und zunehmend miteinander verschränkt werden.
Schaut man nun dagegen Canijos Hotel-Filme, bleibt der Erkenntnisgewinn klein. Klassenunterschiede wie in "The White Lotus" spielen keine Rolle - und auch sonst korrespondierenden sie nur spärlich miteinander. Letztlich gibt es Familiendramen und seelische Abgründe überall. Sie werden gleichzeitig ausgefochten, ohne dass die eine Familie von der anderen weiß. Was für die einen substanziell ist, ist für die anderen nur Hintergrundrauschen. Um das zu zeigen, hätte es nicht zweier Filme bedurft. Und dass João Canijo damit nun die außergewöhnliche Ehre einer Doppel-Einladung auf die Berlinale zuteil wird, ist eine klare Überbewertung nicht unbedingt der einzelnen Filme, ganz sicher aber ihres Gesamtkonstrukts.
Sendung: Inforadio, 23.02.2023, 09:55 Uhr