Berlinale-Wettbewerb | "Dreams" (Sex Love) -
Die große Kunst der Beiläufigkeit
Mi 19.02.25 | 19:35 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Bild: Agnete Brun
Ein Mädchen verliebt sich in seine Lehrerin und schreibt darüber. Dag Johan Haugeruds "Dreams" ist klug, überraschend, warm, witzig und gleichzeitig komplex und leichtfüßig. Ein spätes Highlight im Wettbewerb. Von Fabian Wallmeier
Der 1964 geborene norwegische Autor und Regisseur gewann mit "I Belong" den norwegischen Filmpreis Amanda für den besten Film, die beste Regie, das beste Drehbuch und die beste weibliche Hauptrolle. "Beware of Children" gewann beim Göteborger Filmfestival den Dragon Award für den besten Film, den besten Darsteller und neun Amandas. "'Drømmer" ist der dritte Teil der Trilogie "Sex" und "Love".
Johanna und Johanne – wenn zwei Menschen fast genau gleich heißen, muss das doch ein Zeichen sein, oder? Johanne (Ella Øverbye) jedenfalls ist davon überzeugt, auch wenn sie vor den Gefühlen, die sie für Johanna (Selome Emnetu) entwickelt, zunächst geradezu Angst hat. Johanne ist 16 und Johanna ihre neue junge Lehrerin.
Johanne erzählt uns aus dem Off, wie sie sich in Johanna verliebt ("Es war furchtbar und wunderbar zugleich") – und später stellt sich heraus, dass was sie da spricht, eine Art Tagebuch ist, Notizen, die sie für sich selbst gemacht hat. Und die dann auch ihre Großmutter und ihre Mutter lesen. Später wird daraus sogar ein Buch.
Mit dem anderen Wettbewerbsfilm gleichen Namens, "Dreams" von Michel Franco, hat Dag Johan Haugeruds nur den Titel gemein. Seine kluge, zarte, witzige, leichtfüßige, melancholische und profunde Geschichte ist Michel Francos zudem in so ziemlich allen Belangen deutlich überlegen.
Michel Franco zeigt in "Dreams" ein ungleiches Paar: eine reiche amerikanische Wohltätigkeitsverwalterin und einen deutlich jüngeren mexikanischen Tänzer. Doch soziale Reibungen hat er schon deutlich besser und radikaler abgebildet. Von Fabian Wallmeier
Raffinierte Perspektivänderungen
Haugeruds Film ist um einiges komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Wie er etwa mit der Erzählerinnenperspektive umgeht, ist höchst raffiniert. Wir hören zwar meist Johanne reden, aber die Warte, aus der sie spricht, verschiebt sich ständig. Sie spricht in den direkten Filmszenen in verschiedenen Zeitebenen - und auch ihre Erzählung aus dem Off ist im ständigen Wandel: Mal spricht die Johanne aus dem heruntergeschriebenen Erfahrungsbericht, dann eine ältere, die auf das Schreiben und auf das Lesen der Mutter und der Großmutter zurückblickt, dann eine noch spätere nach der Veröffentlichung ihres Buchs. Dazu kommen die sich auch ständig weiterentwickelnden Perspektiven von Mutter (Ane Dahl Torp) und Großmutter (Anne Marit Jacobsen) – und in einer überraschenden Szene Johannas Sicht auf die Dinge.
Dieses ständige Neujustieren und intertextuelle Analysieren klingt anstrengend, ist es aber überhaupt nicht. Wie organisch Haugerud diese ständige Weiterentwicklung aufbaut und schneidet, ist logisch schlüssig, immer wieder aufregend und in einem ständigen Fluss. Die große Kunst der Beiläufigkeit hat er so tief durchdrungen, wie es nur den besten Filmemacher:innen gelingt.
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Opferbericht oder "feministisches Juwel"?
Der Grundton des Films ist im Wechsel schwelgerisch und melancholisch. Es geht schließlich um die erste große Liebe, um Verlangen und Träumen, um Enttäuschungen und Verletzungen. Doch immer wieder ist "Dreams" ausgesprochen witzig, vor allem in den Dialogen von Mutter und Großmutter. Johannes Text regt sie dazu an, auch das das eigene sexuelle Verlangen in ihren jeweiligen Lebenslagen zu besprechen. Und sie diskutieren zunächst natürlich, was von dem im Text Geschilderten wirklich passiert ist, und was Johanne hinzuphantasiert hat. Ist er der Bericht eines Opfers oder ein "feministisches Juwel"?
Die Mutter ist zunächst gewillt, alles für bare Münze zu nehmen und die Lehrerin wegen sexuellen Missbrauchs zu melden – auch wenn der Film feinsinnig offen lässt, was denn eigentlich zwischen Johanna und Johanne vorgefallen ist. Die Großmutter hingegen, selbst Dichterin, hebt gleich auf die literarischen Qualitäten des Textes ab und will ihn ihrer Verlegerin schicken.
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Haugeruds Film lässt sich ebenso wenig auf eine einfache Formel bringen. Lustvoll dekonstruiert er vermeintliche Gewissheiten. Gerade hat man sich etwa selbst die Formel zurechtgelegt, dass der Film wohl von einem queeren Erwachen handelt, da hört man Johanne diese Zuschreibung fast schon belustigt bei Seite wischen. "Bin ich queer, nur weil ich mich in Johanna verliebt habe?"
Diskurslastig und sinnlich
"Dreams" ist zweifellos ein diskurslastiger Film, aber auch ausgesprochen sinnlich. Wenn Johanna und Johanne in Johannas Wohnung zusammensitzen (die Lehrerin bringt der Schülerin Stricken bei), strahlen nicht nur die Gesichter der beiden Schauspielerinnen, sondern alles sieht so warm und gemütlich aus, dass man sich direkt dazu setzen und auch so einen kuscheligen Pullover stricken möchte wie den, den Johanna trägt.
Überhaupt sind die vier Darstellerinnen fantastisch. Die mal verletzliche, mal lebenskluge Johanne, die ihre Rolle in der Geschichte suchende Mutter, die forsche, lebenskluge Großmutter und die mal verständnisvolle, dann irritierend abweisende Johanna: Alle vier sind dank der Darstellerinnen (und Haugeruds exzellenten Buches) runde, glaubwürdige Figuren.
Haugerud findet zudem ein visuell starkes Leitmotiv: Gleich in der ersten Einstellung und immer wieder filmt er verschiedene Arten von Treppen. Die stylish verwinkelten im lichten Treppenhaus des modernistisch-warmen Hauses, in dem Johannas Wohnung ist. Und die nicht enden wollenden Treppen, die Mutter und Großmutter bei ihrer Wanderung im Umland von Oslo erklimmen. Kamerafrau Cecilie Semec filmt sie teilweise aus so ungewohnten Winkeln, dass nicht gleich klar ist: Geht es hier gerade nach oben oder nach unten?
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Drei Filme - mit verknüpften Themen
"Dreams" ist der zweite Teil einer Trilogie, feiert aber als letzter Premiere. Die Weltpremiere von "Sex" war voriges Jahr im Panorama. Darin geht es um zwei Dachdecker, die in heterosexuellen Beziehungen leben, aber queeres Verlangen entdecken. Der dritte Film, "Love", lief dann einige Monate später im Wettbewerb von Venedig. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die nach einer Begegnung mit einem auf Gelegenheitssex bedachten Mann auf einer Fähre, ihr Liebes- und Beziehungsmodell in Frage stellt. In "Dreams" (in Norwegen schon im September 2024 veröffentlicht) kommt nun die Perspektive der Heranwachsenden hinzu.
Letztlich, sagt Haugerud auch selbst, geht es in allen drei Filmen um alle drei Dinge, die in den Filmtiteln benannt werden. Schließlich sind Sex, Liebe und Träume untrennbar miteinander verknüpft, sie bedingen, ergänzen und verkomplizieren einander. Die drei Filme funktionieren dann auch unabhängig voneinander, weil die Geschichten und Figuren sich nicht direkt aufeinander beziehen. Aber es ist ein besonderes Vergnügen, alle drei miteinander in Verbindung zu setzen.
Kinogänger:innen in Deutschland werden dazu ab Mitte April die Gelegenheit haben: Alamode plant, alle drei Filme im Abstand von jeweils zwei Wochen in die Kinos zu bringen - in wiederum anderer Reihenfolge unter dem Übertitel "Oslo Stories" und mit den Untertiteln "Liebe" (ab 17.04.), "Träume" (ab 08.05.) und unnötig keusch nicht etwa "Sex", sondern "Sehnsucht" (ab 22.05.). Allen drei Filmen sind viele Zuschauer:innen zu wünschen.
Berlinale 2025: Stars, Glamour und Momente
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Elegant in tiefem blau spaziert Sibel Kekilli über den roten Teppich. Sie ist im deutschen Wettbewerbsbeitrag ''Yunan" an der Seite von Hannah Schygulla zu sehen.
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Aber auch Weiß passt gut zu Rot. Und scheint in diesem Jahr beliebt zu sein. Hier trägt die australische Schauspielerin Rose Byrne ein priesterähnliches Gewand. Im Wettbewerbs-Beitrag "If I Had Legs I'd Kick You" gibt sie eine herausragende Performance als Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs.
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Im 1960-Jahre-Look kommt Margaret Qualley, Tochter von Andie MacDowell zum Berlinale Palast. Sie bringt neben dem Wettbewerbfilm "Blue Moon", ihren Hund Smokey mit.
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Bestens gelaunt sind Regisseur Richard Linklater (2.v.r.) mit den Stars seines Wettbewerbfilms "Blue Moon". Im Biopic spielt Margaret Qualley (li) die große Liebe des berühmten Songwriters Lorenz Hart. Ethan Hawke, hier salopp im Holzfällerhemd, verkörpert Lorenz Hart, Andrew Scott (re) den Komponisten Richard Rodgers.
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Sie sind die Stars des ersten deutschen Wettbewerb-Beitrags "Was Marielle weiß": (li-re) Felix Kramer, Julia Jentsch und Laeni Geiseler, zusammen mit Regisseur Frederic Hambalek.
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Sie sind auch da! Bob Geldorf Sänger und Aktivist und der Schauspieler Antonio Banderas öffnen kurz die Tür: Sie sind Gäste der Cinema for Peace Gala 2025 im Hotel Adlon.
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Passend zu den Minusgraden in Berlin kommen August Diehl und der französische Star Marion Cotillard, um den Wettbewerbsfilm "La Tour de Glace"/"The Ice Tower" zu präsentieren.
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Wenn sie frieren, ist es ihnen nicht anzusehen: Schauspielerin Rose Byrne und Regisseurin Mary Bronstein haben den Wettbewerbsfilm "If I Had Legs I'd Kick You" im Gepäck.
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Und da ist ... Robert Pattinson ... Entspannt steigt er aus dem Wagen und begrüßt die Fans bei der Berlinale. Locker und gut gelaunt lässt er sich von Kameras und Jubel nicht aus der Ruhe bringen.
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Hollywoodstar Robert Pattinson soll Sorge vor der Berliner Kälte gehabt haben. Sein Outfit hatte er sich in Kalifornien zurechtgelegt.
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Der Brite ist regelmäßiger Gast auf der Berlinale und präsentiert in diesem Jahr "Mickey 17", eine Sciende-Fiction-Komödie von Kult-Regisseur Bong Joon-ho. Pattinson spielt Mickey Barnes, Held wider Willen, verdient sich darin seinen Lebensunterhalt damit, dass er stirbt.
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Die Berliner:innen sind auf die eisigen Temperaturen gut vorbereitet. In dicke Jacken, mit Mützen und Schals ist der Andrang am roten Teppich groß. Diese jungen weiblichen Fans warten auf Timothée Chalamet. Spoiler: Er wird auch kommen.
Selfie mit der neuen Berlinale-Chefin: Tricia Tuttle ist der Stress der letzten Monate nicht anzusehen. Seit April 2024 ist sie im Amt - nicht viel Zeit, um ein Weltfestival mit über 200 Filmen auf die Beine zu stellen.
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Heiß erwartet von seinen weiblichen Fans: Timothée Chalamet. In "A Complete Unknown" gibt er eine fulminante Darstellung des jungen Bob Dylan. Der Film läuft im Rahmen der "Berlinale Special Gala" ...
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... und Timothée wird mindestens genauso belagert, wie seinerzeit der junge Bob ...
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Jessica Chastain - mitten im Fan-Trubel zur Premiere des Films "Dreams": Geduldig lächelnd, umringt von Handys und Blitzlichtern. Doch auf der Pressekonferenz findet die US-Schauspielerin deutliche Worte zur politischen Realität in den USA.
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Umgeben von Autogrammjägern, aber Jacob Elordi bleibt cool. Auch in seiner Rolle als Dorrigo Evans in "The Narrow Road to the Deep North" muss er sich inmitten des Chaos' behaupten.
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Emma Mackey, vielen bekannt aus der Netflix-Serie "Sex Education", überzeugt bei der Berlinale mit ruhiger Ausstrahlung und einem eleganten Look in Weiß. Sie spielt im Wettbewerbs-Beitrag "Hot Milk" eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst.
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Viermal weiße Garderobe auf dem roten Teppich bei der Eröffnungsgala: Model Toni Garrn bringt zwar keinen Film mit, aber den Teppich zum Leuchten.
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Naomi Ackie posiert für die Kameras und genießt das Blitzlichtgewitter. In "Mickey 17" ist sie an der Seite von Robert Pattinson sehen.
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Ein Traum in weiß: Jury-Mitglied Fan Bingbing. Will man Wikipedia Glauben schenken, führt die Schauspielerin und Sängerin seit 2015 die Forbes-Liste der bestbezahlten Chinesen 2015 an.
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Schwarz auf Weiß bringt Klimaaktivistin Luisa Neubauer am Eröffnungsabend der Berlinale eine politische Meinung zum Ausdruck: Auf der Vorderseite ihres Kleides steht: "Donald & Elon & Alice" und darunter "Friedrich?". Auf dem Rückenteil ist nachzulesen: "Democracy Dies in Daylight"
Mit dem Goldenen Bären ist am Samstagabend das norwegischen Liebesdrama "Dreams" von Dag Johan Haugerud geehrt worden. Doch auch in diesem Jahr blieb die Politik nicht außen vor - stellenweise fielen deutliche Worte.
Ein solider Wettbewerb, ausreichend Stars und schöne Überraschungen bei der Preisverleihung: Die erste Berlinale unter Tricia Tuttle ist gut über die Bühne gegangen - mit einigen Abstrichen. Von Fabian Wallmeier
Die 75. Berlinale geht am Wochenende zu Ende. Höhepunkt ist die feierliche Preisgala am Samstagabend, bei der die Bären verliehen werden. Neben den Film-Hightlights steht auch die politische Dimension des Festivals im Fokus. Von Ula Brunner
Am Samstagabend werden die Hauptpreise der 75. Berlinale verliehen. Unsere Filmkritiker:innen Anna Wollner und Fabian Wallmeier verraten, welche Filme sie für bärenwürdig halten - und welche nicht.