Berlinale-Filmkritik | "Favolacce" (Bad Tales) - Eine fürchterlich-fantastische Geschichte aus dem Müll
Die Brüder D‘Innoncenzo haben ihre Kindheit in einem Vorort von Rom verbracht. Dort spielt jetzt auch ihr erster Film im Berlinale-Wettbewerb. In "Favolacce“ (Bad Tales) wird aus der Idee eines behüteten Vororts geradewegs die Hölle auf Erden. Von Jakob Bauer.
Flirrende Hitze, zirpende Grillen, die Sonne flimmert über dem Teer, der Schweiß rinnt über die verbrannte Haut. Wir sind in einer Vorortsiedlung in Italien, bei Familien, die es nicht ganz nach oben geschafft haben - eine Art untere Mittelschicht. Es sind Sommerferien. Die Kinder haben Supernoten, der Papa hat gerade eine neue Seife auf den Markt gebracht und einen Pool gekauft, alles gut also?
Nein. Nichts ist gut. Auch wenn "Favolacce" auf einen düsteren Höhepunkt zusteuert, der Horror dieser Kleinstadtsiedlung ist ab der ersten Minute spürbar.
Abfallprodukte ihrer Eltern
Die Eltern haben eigentlich alles zum Leben, aber sie haben nichts im Griff. Die Männer sind aggressive Machos, die gemeinsam an Vergewaltigungsfantasien stricken und ihre Kinder schlagen. Die Frauen sind unbeteiligt und ignorant. Und doch sind alle furchtbar selbstmitleidig und zugleich selbstzufrieden. Der Meinung, dass sie ja so gute Eltern seien.
Aber die Kinder sind schon tot, bevor ihr Leben wirklich begonnen hat. Die Körper jung und schön, aber die Augen matt, die Gesten leblos, die Gespräche ohne Regung. Sie sind nicht mehr als Abfallprodukte ihrer Eltern. "Ich hab jetzt voll Lust auf Bumsen", sagt einer der Jungen, vielleicht um die zehn Jahre jung, dann legen er und ein gleichaltriges Mädchen sich nebeneinander. Aber natürlich schlafen sie nicht miteinander, wie auch. Sie sind ja nur Kinder. Ohne emotionalen oder rationalen Halt taumeln sie durch dieses Leben.
Was bleibt, sind Extreme
Wie kann so etwas passieren? Das fragen die D’Innoncenzo-Brüder nicht und sie geben in "Favolacce" auch keine Antwort darauf. Sie stellen einfach fest, dass dieser Horror existiert. Dass er nicht am Rande der Gesellschaft stattfindet, nicht nur beim sogenannten Prekariat. Dass er auch in der behüteten Vorstadtsiedlung regiert. Und dass wir das vielleicht langsam realisieren sollten.
Dementsprechend erzählen die D’Innoncenzo Brüder diese Geschichte in radikaler Konsequenz aus. Das einzige, was diesen Kindern bleibt, um gehört, berührt, wirklich wahrgenommen zu werden, sind Extreme. Und wenn selbst die nicht mehr ausreichen, das Extremste.
Filmisch ist das dicht und mitreißend erzählt. Verzweifelt sucht man in den leiernden Stimmen der großartigen Kinderschauspieler die Emotionen. Die Erwachsenen möchte man pausenlos anschreien. Und das Teenie-Mädchen, das gerade ein Kind bekommen hat und auf dem Sprung ist, diese Hölle zu verlassen, dem möchte man aufmunternd zurufen. Dabei ist schon zu Beginn des Films klar ist, dass auch für sie alles verloren ist.
Eine Geschichte aus dem Müll
Denn die D‘Innoncenzos haben "Favolacce" geschickt gerahmt. Was wir sehen, basiert angeblich auf dem Tagebuch eines Mädchens, das ein namenloser Ich-Erzähler zu Beginn des Films passenderweise im Müll findet. Der Erzähler ist fasziniert von der Schrift und den Sätzen in diesem Tagebuch - nicht inhaltlich, aber von dem, was sie in ihm, einem "vom Leben genervten", wie er sich selbst bezeichnet, auslösen. Was dieser "vom Leben Genervte" dann aus diesem Tagebuch vorliest, sind ganz profane Geschichten: "Wir sind in’s Grüne gefahren, der Straßenflohmarkt war früher schöner, Papa war nicht gerne am Meer". Was wir auf der Leinwand sehen, ist das, was der Ich-Erzähler hinter den Zeilen entdeckt. Hinter den schönen Häuserfassaden, den Poolpartys und den Geburtstagsfeiern.
Es ist "eine wahre Geschichte, die auf Lügen basiert" - das sagt der Erzähler am Anfang. "Es tut mir leid, dass Sie sich so etwas Unrealistisches anschauen müssen", sagt er am Ende. Aber da hat einen das desillusionierte Menschenbild der D’Innoncenzos dann schon erwischt - und es ist klar: Wenn wir das Kino verlassen, dann ist zwar dieser fürchterlich-fantastische Film zu Ende. Aber seine Geschichte geht weiter.
FAZIT: Die D’Innoncenzo Brüder konfrontieren uns in "Favolacce" (Bad Tales) mit ihrem zutiefst bedrückenden Menschenbild. Statt eindeutige Erklärungen für eine komplett kaputte Gesellschaft zu suchen, erzählen sie die Geschichte konsequent zu Ende. Das ist brutal und kaum auszuhalten - ein großartiger Film.