Berlinale-Filmkritik | "The Roads Not Taken" -
Wege in die Vergangenheit
Viele Filme auf der Berlinale drehen sich um körperliche oder seelische Krankheiten. Sie dringen in die Psyche ein und versuchen, sich verletzten Seelen anzunähern. Auch "The Roads not taken" von Sally Potter versucht das - allerdings vergeblich. Von Barbara Wiegand
Leo (Javier Bardem) ist ein New Yorker Schriftsteller, der nicht mehr schreiben kann. Zu sehr lastet die schicksalschwere Vergangenheit auf ihm, schwer wiegen Schuldgefühle und Verlust. Die meiste Zeit verbringt er in seiner kleinen Wohnung.
Die Flure dort sind beklemmend schmal, die Wände aschfahl, auch im Schlafzimmer, wo Leo meistens im Bett liegt und schläft oder träumt von den Wegen, die er im Leben gegangen - oder eben nicht gegangen ist. Vor dem Fenster fahren immer wieder Züge vorbei, so nahe, dass man das Gefühl hat, sie würden durchs Schlafzimmer fahren.
sally potter
Der in London geborenen Filmemacherin gelang der internationale Durchbruch 1992 mit der für einen Oscar nominierten Verfilmung von Virginia Woolfs Roman "Orlando". Mit "The Gold Diggers", "The London Story", "Yes, Rage" und "The Party" war sie auch auf der Berlinale.
Filmdaten: "The Roads Not Taken", Großbritannien 2020, Länge: 85 Minuten
Reise in verlorene Erinnerung
Wir fahren ein Stück weit mit, auf den Spuren von Leos Erinnerungen. Der Unfalltod des Sohnes, die lähmende Trauer, das Scheitern der einen, später auch der anderen Ehe.
Wie Halluzinationen, kurze Schlaglichter taucht das, was geschehen ist, in kurzen Rückblenden auf. Jene Vergangenheit, die für Leo genauso verloren scheint, wie seine Worte, um sie zu beschreiben. So redet er auch kaum mit seiner Tochter (Elle Fanning), die ihn oft besucht und ihn auf seinen Wegen nach draußen, ins New York der Gegenwart begleitet. Zum Zahnarzt, zum Optiker.
Zwischen tiefer Depression und Demenz weiß Leo offensichtlich meist gar nicht, wer sie ist. Erst am Ende nennt er die Tochter bei ihrem Namen: Molly. Vorher ist sie nur jemand, der einfach da ist. Die Tränen kommen ihm eher, wenn er Fotos von Nestor sieht, dem toten Hund.
Wanken, schwanken, strahlen - die Stars auf der Berlinale
Bild: dpa/F.Boillot
Die beiden Darstellerinnen Natalia Berezhnaya und Olga Shkabarnya, die in "DAU. Natasha" sich selbst spielen, tanzen ausgelassen über den roten Teppich.
Bild: dpa/Gregor Fischer
Mit ernsten Themen befasst sich Regisseur Rithy Panh. Er bringt mit "Irradiés" einen Film über seine Erfahrungen mit den Roten Khmer auf die Berlinale.
Bild: imago images/K.M.Krause
Die Schauspieler Jila Shahi, Baran Rasoulof und Kaveh Ahangar sowie der Produzent Farzad Pakund sitzen neben dem leeren Platz von Mohammad Rasoulof. Der iranische Regisseur des Berlinale-Siegers "Sheytan vojud nadarad" konnte wegen eines Reiseverbots nicht zur Berlinale erscheinen.
Bild: imago images
Die australische Schauspielerin Cate Blanchett präsentiert auf der diesjährigen Berlinale ihre sechsteilige Serie "Stateless". Sie handelt von Menschen, die auf der Flucht alles verloren haben. "Für mich hat jeder Mensch auf dieser Welt das Recht, um Asyl zu bitten" erkärt sie im Interview mit rbb|24.
Bild: dpa/Britta Pedersen
Michael Davies, Welket Bungué und Jella Haase bringen zur Premiere von "Berlin Alexanderplatz", dem zweiten deutschen Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale, richtig gute Laune mit.
Bild: imago images
Der deutsch-afghanische Regisseur Burhan Qurbani versetzt den Klassiker von Alfred Döblin in die heutige Zeit. Sein Franz Biberkopf, gespielt von Welket Bungué (im Bild), heißt Francis und kommt aus Ghana.
Bild: imago images/F.Boillot
Selma Hayek ist einer der großen Stars aus Sally Potters Wettbewerbsbeitrag "The Roads Not Taken". Sie und Milena Tscharntke spielen wichtige Frauen im Leben eines New Yorker Schriftstellers, gespielt von Javier Bardem, der an Schuldgefühlen und Verlust zerbricht.
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Schauspieler Javier Bardem schlüpft in die Haut des depressiven Schriftstellers Leo.
Bild: dpa/Britta Pedersen
Selbst an den Namen seiner Tochter Molly (Elle Fanning) kann er sich nicht erinnern. Molly begleitet ihn, liebevoll und aufopfernd.
Bild: Britta Pedersen/dpa
Willem Dafoe stellt in Siberia einen alternden Amerikaner dar, der sich mit fünf Huskys in die verschneite Einöde Sibiriens zurückgezogen hat. Nicht so auf dem roten Teppich! In bester Laune zeigt er sich in Begleitung von seiner Frau Giada Colagrande (l) und der Schauspielerin Cristina Chiriac.
Bild: rbb|24/Marcus Heep
Filmstar ohne Schauspielausbildung - naja, wenn man die Bühne der Weltpolitik mal abzieht: Die Ex-Außenministerin und Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton war ein ungewöhnlicher Gast dieser Berlinale. Sie ist Protagonistin der Dokuserie "Hillary" - und bei ihrem Auftritt auf dem roten Teppich gab es mehr Knöpfe im Ohr als in der Teddybärenfabrik von Steiff.
Bild: dpa/Michael Kappeler
Wankend erschien der wohl größte internationale Star der Berlinale, Johnny Depp. Dem 56-Jährigen werden Alkoholprobleme nachgesagt. Angeblich musste Depp von seinen Begleitern gehalten und gestützt werden. Am Mikrofon gab er sich dann aber gewohnt eloquent und plauderte in der Pressekonferenz über seinen neuen Film "Minamata".
Bild: dpa/Markus Schreiber
2003 und 2009 war Johnny Depp zum "Sexiest Man Alive" gewählt worden - am roten Teppich ist er bei der Berlinale 2020 Arm in Arm mit Katherine Jenkins (links) und Minami (rechts), seinen Schauspiel-Kolleginnen aus "Minamata" zu sehen.
Bild: rbb
"Unsere Gesellschaft ist vergiftet!" - bei diesem Satz schossen dem Schauspieler Lars Eidinger die Tränen in die Augen. Auf der Pressekonferenz zum KZ-Drama "Persischstunden" von Regisseur Vadim Perelman erklärte der Berliner, wie verzweifelt er darüber ist, welchen Hass Teile der Gesellschaft aussenden.
Bild: dpa/Christoph Soeder
Lars Eidinger spielt außerdem im Schweizer Wettbewerbsfilm "Schwesterlein" neben Nina Hoss. Die beiden Berliner Schauspieler kennen sich seit ihrem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch".
Bild: dpa/Michael Kappeler
Oscar-Preisträger Roberto Benigni (links) gibt dem jungen Pinocchio-Darsteller Federico Ielapi ein Küsschen. Zusammen mit Regisseur Matteo Garrone stellten sie die Neuverfilmung von "Pinocchio" vor, die am Sonntag auf der Berlinale Premiere feierte.
Bild: dpa/Britta Pedersen
Um nicht gezeigte Filme geht es auf der Berlinale eher selten. "The Day the Clown Cried" von Jerry Lewis ist so einer. Das Holocaustdrama des 2017 verstorbenen US-Schauspielers und Regisseurs wurde wegen ungeklärter Autorenrechte nie veröffentlicht. Am Wochenende übergab sein Sohn Chris der Sammlung der Deutschen Kinemathek nun wichtige Dokumente und Accessoires von den Dreharbeiten.
Bild: dpa/Christoph Soeder
Einer der größten Sterne am aktuellen deutschen Filmhimmel ist mit Sicherheit die Schauspielerin Paula Beer. Im letzten Jahr erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis sowie den Grimme-Preis für ihre schauspielerische Leistung in der Serie "Bad Banks". Im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb ist sie mit "Undine" vertreten, dem neuen Werk von Christian Petzold, in dem sie an der der Seite von Franz Rogowski spielt.
Bild: dpa/Christoph Soeder
Auch Jonas Dassler zählt zu den neuen Stars des deutschen Kinos. 2019 spielte er den Serienmörder Fritz Honka in "Der Goldene Handschuh" von Fatih Akin; in diesem Jahr wird er auf der Berlinale zum "European Shooting Star" gekürt - als bester europäischer Nachwuchsschauspieler. Für Dassler ist das fast zuviel der Ehre. Im rbb|24-Interview sagt er: "Ich weiß gar nicht, ob ich mich als Star bezeichnen würde."
Bild: dpa/Michael Kappeler
Wie eine Lichtgestalt erhebt sich Sigourney Weaver aus dem klatschenden Publikum. In "Alien" hat sie 1979 als Offizier Ellen Ripley Filmgeschichte geschrieben. Nun spielt sie die Hauptrolle in "My Salinger Year", dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale.
Es gibt wohl kaum jemand, der aus Familien oder Bekanntenkreis heraus nicht weiß oder zumindest ahnt, was es bedeuten mag, wenn einen die eigenen Eltern nicht mehr erkennen. Wie belastend das ist, wie verstörend, wenn man mitansieht, wie ein Mensch droht, sich zu verliere. Hier aber verstört, berührt einen nichts - das liegt auch an den Darstellern
Javier Bardem agiert als Leo mit dermaßen stoischer Mimik, dass die wenigen Gefühlsausbrüche aufgesetzt wirken. Auch Elle Fanning als Tochter Molly geht einem nur anfangs nahe. Zu oft zieht sie mit ihrem Mienenspiel - zwischen verzweifeltem Optimismus und hemmungslosem Weinen - die immergleichen Register, so dass ihre Gefühle einem nicht wirklich unter die Haut gehen.
Es liegt vor allem aber am Film selbst, dass hier so wenig zurückbleibt. Einmal mehr hat die britische Filmemacherin Sally Potter selbst das Buch geschrieben und Regie geführt. Gegenüber früheren, experimentierfreudigeren, immer wieder aufwühlenden Filmprojekten wirkt dieser Berlinale-Beitrag eher flach. Potter zieht die Erzählung auseinander, statt sie zu verdichten.
Fazit: Diese Reise hinein in eine von tragischen Erlebnissen zerrüttete Psyche gleitet an einem vorbei wie die Züge vor Leos Schlafzimmerfenster. "The Roads Not Taken" von Sally Potter - enttäuschend!
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