Berlinale-Filmkritik | "Call Jane" - Der Kampf ums Recht auf Abtreibung als Geschichtsstunde

Mo 14.02.22 | 10:18 Uhr | Von Anke Sterneborg
Audio: Inforadio | 14.02.2022 | Nadine Kreuzahler

Abtreibungs-Aktivistinnen in den späten Sechziger Jahren: Eine gut situierte Vorstadt-Hausfrau, engagiert sich, nachdem sie das Problem am eigenen Leib schmerzlich erfahren hat. "Call Jane" ist as Kindodebüt von Phyllis Nagy, die schon das Drehbuch für die Liebesgeschichte "Carol" geschrieben hat. Von Anke Sterneborg

Ein Raum voller Männer, distinguierte Ärzte in dunklen Anzügen, Zigaretten rauchend, um einen Konferenztisch versammelt. Mittendrin eine Frau, über deren Schicksal sie entscheiden - auf Leben oder Tod. Denn ihre Schwangerschaft bringt sie in eine lebensbedrohliche Lage.

Aber für Abtreibung gibt es 1968 in den USA nur in seltenen Sonderfällen eine Genehmigung. Das Kind habe gute Chancen zu überleben, konstatieren die Männer, also: Nein zur Abtreibung. Und was ist mit der Mutter, zählt die gar nicht? Nein. Egal auch, dass das Kind dann mutterlos aufwächst, ihre große Schwester Halbwaise und ihr Mann Witwer wird.

Phyllis Nagy

Geboren 1962 in New York City. Ihr Drehbuch für Carol, einer Adaption des Patricia-Highsmith-Romans "The Price of Salt", wurde unter der Regie von Todd Haynes mit Cate Blanchett und Rooney Mara in den Hauptrollen verfilmt. Der Film wurde für mehrere Oscars und den BAFTA nominiert und mit dem NY Film Critics Circle Award ausgezeichnet. Für ihre Regie- und Drehbucharbeit am Film Mrs. Harris, mit Annette Bening und Ben Kingsley in den Hauptrollen, erhielt Nagy mehrere Emmy-, SAG- und Golden-Globe-Nominierungen.

Von der Vorstadt-Hausfrau zur Abtreibungs-Aktivistin

Es ist eine extreme Situation, ein Drehbuch-Trick, mit dem eine eher konservative Frau aus ihrer Komfortzone katapultiert und in eine existenzielle Situation getrieben wird. Normalerweise müssen sich gut situierte Hausfrauen nicht mit solchen Problemen herumschlagen und werden darum auch eher nicht zu Abtreibungsaktivisten.

Joy (Elizabeth Banks) lebt in einer glücklichen Ehe, mit einem Mann (Chris Messina), der erfolgreicher Anwalt ist und einer fünfzehnjährigen Tochter (Grace Edwards), bei der man sich keine Sorgen machen muss, dass sie bei den Unruhen mitmischt, die sich im August 1968 auf den Straßen von Chicago zusammenbrauen. Jetzt ist Joy noch mal schwanger und alle freuen sich auf das Kind - aber eben nicht um den Preis ihres Lebens. Ein Therapeut steckt ihr eine Nummer zu, bei der sie Hilfe bekommen könnte, illegal und konspirativ, ein kleines, umtriebiges Netzwerk von Frauen und einem Mann, der die Eingriffe vornimmt und 600 Dollar für 20 Minuten kassiert. Ein Mann, der später dann merkwürdig unvermittelt aus der Geschichte der Frauen gekickt wird.

Brisantes Thema, aber gedrosselte Dringlichkeit

"Call Jane" ist schon auf dem Sundance-Festival gelaufen, also keine Weltpremiere, die üblicherweise bei einem A-Festival erwünscht ist. Aber es gibt schon mal Gründe, einen wichtigen Film trotzdem zu zeigen, weil amerikanische Independent-Filme es sich nicht leisten können, auf die wichtige Startrampe Sundance zu verzichten. Und wenn der Film eine besondere Dringlichkeit und künstlerische Kraft hat, so wie 2020 "Never rarely sometimes always" von Eliza Hittman, auch ein Abtreibungsdrama, nicht historisch, sondern aktuell, und dabei so leise, und zugleich wuchtig, dass der Film mit einem silbernen Bären ausgezeichnet wurde.

Das Thema, von dem auch "Call Jane" handelt, ist wichtig und brisant, erst recht in Zeiten, in denen viele Länder, wie Polen oder auch einzelne Staaten der USA die Abtreibungsgesetze verschärfen. Nur, sonderlich dringlich wirkt "Call Jane" unter der Regie von Phyllis Nagy leider nicht. Die Sechziger Jahre an der Schwelle zu den Siebzigern erscheinen in diesem Ausstattungs-, Kostüm- und Frisuren-Kino seltsam angestaubt.

Sigourney Weaver ist großartig als Frontfrau des "Call Jane"- Netzwerks, als erdige No-nonsense-Aktivistin. Aber die anderen Frauen um sie herum bleiben Chiffren ohne nennenswerte Persönlichkeit. Besonders gilt das für eine Nonne, zumal Ordensfrauen in Filmen und Serien wie Philomena und Kidnapping unrühmliche Rollen beim Handel mit ungewollten Kindern gespielt haben.

Eine traumatische Erfahrung wird spürbar

Eine Stärke des Films liegt darin, wie er die traumatische Erfahrung des illegalen Schwangerschaftsabbruchs, allein auf einem gynäkologischen Stuhl, schutzlos unter dem Blick eines Mannes, hadernd mit der Entscheidung, ums eigene Leben fürchtend ganz unmittelbar spürbar macht. In der Wahrnehmung der von Elizabeth Banks gespielten Joy, aber auch in der einfühlsamen Art, in der sie später andere Frauen begleitet und unterstützt.

Das große Manko des Films liegt darin, dass er keine starke Haltung vertritt, gegenüber eines Problems, das mit der Entscheidung der versammelten Männer des Supreme Courts, die am Ende im Jahr 1973 gefeiert wird (sieben Richter pro, zwei dagegen) keineswegs aus der Welt ist. Während "Never rarely sometimes always" von Eliza Hittman ein Schlag in die Magengrube war, der lange nachwirkte, ist "Call Jane" eher ein freundlicher Stups, ein Film der so tut als wäre das Problem vor rund 50 Jahren geklärt worden.

FAZIT: "Call Jane" behandelt das bis heute brisante und umkämpfte Thema Schwangerschaftsabbruch einfühlsam, aber ohne dem emotionalen, politischen und gesellschaftlichen Zündstoff gerecht zu werden.

"Call Jane" von Phyllis Nagy, mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Kate Mara u.a., USA,
Internationale Premiere

Sendung: Inforadio, 14.02.2022, 07:30 Uhr

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