Berlinale-Filmkritik | "Leonora addio" - Der mindestens dreifache Abschied
Der 90-jährige Paolo Taviani stellt auf der Berlinale einen Film über die Heimkehr der Asche des Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello vor. "Leonora addio" beginnt stilbewusst-behäbig, nimmt aber eine erstaunliche Wendung. Von Fabian Wallmeier
Vor zehn Jahren war Paolo Taviani zuletzt auf der Berlinale zu Gast. Für "Caesar Must Die" gewann der Italiener den Goldenen Bären. Er gewann ihn nicht allein, sondern zusammen mit seinem Bruder Vittorio. Natürlich, muss man sagen - denn die Taviani-Brüder realisierten seit dem ersten Kurzfilm im Jahr 1962 all ihre Filme zusammen.
Vittorio Taviani starb 2018. Sein Bruder Paolo stellt nun, mittlerweile 90 Jahre alt, zum ersten Mal allein einen Film in Berlin vor: "Leonora addio" ist am Dienstagabend als vorletzter Film in den Berlinale-Wettbewerb gestartet.
Die Asche kehrt heim
Taviani erzählt in klaren Schwarz-Weiß-Bildern vom Tod des Literaturnobelpreisträgers Luigi Pirandello - noch mehr aber von der Zeit danach: Rund zehn Jahre nach Pirandellos Tod (er starb 1936) macht sich ein Beamter auf den Weg, um seine Asche von Rom in die sizilianische Heimat zu bringen, wie der Autor es sich gewünscht hat.
Langsam, in ruhigen Kameraeinstellungen und mit wenig Dialog zeigt Taviani die Reise des Beamten durch das Nachkriegs-Italien. Altmodisch, liebevoll, manchmal heiter und ein bisschen behäbig. Und natürlich gespickt mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen auf Pirandello, sein Leben und sein Werk. Vermutlich können Zuschauende, die mit ihm vertraut sind, noch ein Vielfaches davon ausmachen.
Das Spiel mit den Erwartungen
"Leonora addio" ist der Titel einer Novelle von Pirandello, die aber im Film gar nicht aufgegriffen wird. Es taucht auch keine andere Leonora auf - vielmehr geht es Taviani offenbar um das Spiel mit den Erwartungen. Nach gut einer Stunde gibt es im Film einen radikalen Bruch. Plötzlich sind wir in einer ganz anderen Welt.
Basierend auf Pirandellos Erzählung "Der Nagel" geht es nun um einen jungen Italiener in Brooklyn, der ein Mädchen tötet. Das Schwarz-Weiß ist einer kontrastreichen Farbigkeit gewichen. Wie genau beide Teile (von Pirandello als Bindeglied einmal abgesehen) zusammenhängen, ist deutungsoffen. Der komplette Bruch ist jedenfalls nach all der sicher inszenierten, aber auch etwas behäbigen ersten Stunde ein Kunstgriff, den man von einem 90-Jährigen in einem großen Abschiedsfilm nicht erwartet hatte.
Dem gestorbenen Bruder gewidmet
Ein "addio" (wie Abschied auf Italienisch heißt) ist der Film mindestens im dreifachen Sinne. Zuvorderst geht es um den langen Abschied von Luigi Pirandello. Auch die zweite Geschichte im letzten Drittel des Films endet mit einem langen, berührenden Abschied, von dem hier nicht mehr verraten werden soll. Und natürlich ist es auch der filmische Abschied Paolo Tavianis von seinem Bruder Vittorio, dem der Film mit einer handschriftlichen Einblendung zu Beginn gewidmet ist.
"Leonora addio" ist nicht nur ein Literatur-Film, sondern auch gewissermaßen ein Film-Film: Taviani lässt Ausschnitte aus mehreren anderen Filmen in seinen einfließen: Roberto Rosselini etwa wird zitiert, von dem sich die Taviani-Brüder einst inspirieren ließen. Es ist Taviani dabei hoch anzurechnen, dass er nur einmal sich selbst (und natürlich seinen Bruder) zitiert. Er tut das mit einem Ausschnitt aus "Kaos"- und ist dabei dann doch wieder bei der Literatur gelandet. Denn auch dieser Taviani-Film entstand auf der Grundlage von Novellen von: Luigi Pirandello.
"Caesar Must Die" war ein pädagogisch sicher wertvoller, aber ausgesprochen hölzerner Film über eine Theaterinszenierung mit Gefängnisinsassen. Dass die Tavianis dafür 2012 den Goldenen Bären erhielten, gehört zu den rätselhafteren Jury-Entscheidungen der jüngeren Berlinale-Geschichte. Ob Taviani sich am Mittwochabend einen zweiten Goldenen Bären ins Regal stellen kann? Wahrscheinlich nicht. Aber weitaus verdienter als jene vor zehn Jahren wäre die Auszeichnung allemal.
FAZIT: Paolo Taviani stellt mit 90 Jahren noch einmal einen neuen Film vor - erstmals ohne seinen Bruder Vittorio. Mit "Leonora addio" verbeugt er sich vor Luigi Pirandello - und bricht im letzten Drittel radikal mit den Erwartungen. Frischer als erwartet.
"Leonora addio" von Paolo Taviani, mit Fabrizio Ferracane, Matteo Pittiruti, Dania Marino, Dora Becker u.a., Italien, Weltpremiere
Sendung: Inforadio, 15.02.2022, 18:55 Uhr