"Geisterkonzert" der Berliner Philharmoniker - Musik gegen die Stille

Fr 13.03.20 | 08:49 Uhr | Von Jens Lehmann
Ein Konzert der Berliner Philharmoniker (Quelle: dpa/Eventpress Hoensch)
Audio: Inforadio | 13.03.2020 | Jens Lehmann | Bild: dpa/Eventpress Hoensch

Es ist schon seltsam. Die Hälfte aller Plakate in der Stadt werben für Konzerte, die abgesagt wurden. Die Berliner Philharmoniker sind auch betroffen, aber sie wollten trotzdem spielen – und haben ihr Konzert kurzerhand ins Netz verlegt. Von Jens Lehmann

So ein virtuelles Konzert hat ja seine Vorteile: Ich muss mich nicht durch Wind, Regen und die Virenschleudern des Nahverkehrs in die Philharmonie kämpfen - und mein Jackett bleibt im Schrank. Kein lästiges Sehen und Gesehen-Werden im Foyer, keine Schnittchen, keine Piccolöchen, stattdessen: Wohlfühl-Klamotten, Lieblingskopfhörer am Rechner, dazu Knabberzeug und Cola.

Ich hätte mich auch für den Livestream der "Carmen" aus der Staatsoper oder das Hauskonzert von Igor Levit drüben bei Twitter entscheiden können – aber die Philharmoniker unter Simon Rattle haben das spannendste Programm: Berios "Sinfonia" und Bartoks Konzert für Orchester sind zwei Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts.

Berliner Philharmonie (Quelle: dpa/Ingo Schulz)
Bild: dpa/Ingo Schulz

Erstmal allerdings dröhnt mir Werbung entgegen. Natürlich lassen es sich die Philharmoniker nicht entgehen, ihre Digitale Konzerthalle anzupreisen, als sei sie das Allheilmittel in Krisenzeiten. In Videobotschaften kaschieren Rattle und Intendantin Andrea Zietzschmann nur mühsam ihre Ratlosigkeit angesichts der Pandemie und ihrer Folgen - da betritt auch schon das Orchester das Podium, zu einer traurigen Melodie der Kontrabässe. Kein Applaus brandet auf, kein Rascheln der Abendkleider, kein obligatorischer Hustenkrampf, nur leere Reihen gähnen den Musikern entgegen.

Rattle greift noch einmal zum Mikrophon: Man sei ja bei Konzerten mit Neuer Musik schon daran gewöhnt, dass kaum Publikum da sei - aber wenigstens sei irgendwer im Saal, scherzt der Dirigent. Doch man habe auch ein Zeichen in der Krise setzen wollen, fährt er ernster fort. Gerade in Zeiten, in denen die Menschen mehr Abstand zueinander halten sollen, ja: isoliert seien, müsse die Musik Trost spenden. Und man möge ihm und dem Orchester bitte verzeihen, aber: Sie hätten keine Ahnung, was passiert, wenn die Musik ende.

 

Berios Sinfonia stammt aus dem Jahr 1968 und ist eine Art musikalisches Portrait dieser Zeitenwende – mit acht Vokalsolisten, die zu dissonanten Handkantenschlägen des Orchesters Texte von Beckett und Levi-Strauss, aber auch Spielanweisungen aus Partituren oder gänzlich Improvisiertes sprechen, singen, schreien, seufzen, stottern, scatten, dass es eine Freude ist. Und Berio zitiert sich in diesem Stück durch die halbe Musikgeschichte, von Beethoven über Ravel bis Mahler.

Zusammen mit den Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart ziehen mich die Philharmoniker soghaft in diese Musik hinein. Oder sind das doch nur die Nahaufnahmen der Digitalen Konzerthalle? Egal: Bei Berio sitze ich jedenfalls auf der Stuhlkante, bevor ich Solisten und Orchester unter unsicherem Gekicher in die Pause gehen sehe.

Existenzgefährdendes Loch in der Kasse

Da kann ich mich dann kaum auf die launige Werkeinführung konzentrieren. Stattdessen denke ich noch einmal über die Auswirkungen des weitreichenden Veranstaltungsverbots nach. Klar: Die Maßnahmen sind aus virologischer Sicht nachvollziehbar. Dennoch gleicht allein der Konzertkalender auf der Seite der Berliner Philharmoniker einem Virtuellen Grabstein.

So viele großartige Programme, die nun nicht zu hören sein werden, so viele Solisten, Orchester, Chöre, viele davon Freischaffende oder Laienensembles, die nun umsonst geprobt haben und denen ein existenzgefährdendes Loch in die Kasse gerissen wird. Ganz zu schweigen von Abenddienst-Mitarbeiterinnen, Bühnentechnikern, Caterern, Orchesterwarten, Transport-Unternehmen, der ganzen umfangreichen Zulieferkette des Kulturbetriebs, über die man sich kaum Gedanken macht, wenn man im Konzert, in der Oper oder im Theater sitzt.

Die Orchesterwarte der Philharmoniker haben Glück: Sie werden weiterbezahlt. Jetzt haben sie zu tun, man kann ihnen beim Umbau zusehen – und zuhören: "Da hängt noch’n Mikro-Faden über der Harfe!" …  Doch da kommen schon die Musiker wieder. Schließlich muss man heute nicht auf lange Schlangen an den Sektständen Rücksicht nehmen. Stattdessen volle Kraft voraus in Bartoks Konzert für Orchester.

Der Saal der Philharmonie in Berlin. (Quelle: dpa/Rainer Jensen)
Bild: dpa/Rainer Jensen

Hier glänzen vor allem die Bläser der Philharmoniker – angeführt von Klarinettist Wenzel Fuchs. Im dritten Satz, der Elegie, glaubt man die Leere des Saals mit Händen greifen zu können, wie sie auf die Musiker eindringt. Und der Taumel des Schlusssatzes wirkt, als ob das Orchester ihn mit besonderem Furor gegen das Unvermeidliche anspielt. Nicht nur ihre künftigen Konzerte in Berlin sind bis auf weiteres abgesagt, auch ihr Osterfestival in Baden-Baden steht auf der Kippe.

Eine letzte Steigerung, ein strahlender Schlussakkord – und dann? Kein Jubel. Kein Bravosturm. Nur Totenstille nach einem sensationell guten Konzert, einem starken Plädoyer für die Neue Musik und einem Appell für mehr Musik in einsamen Zeiten. Und ich bin den Tränen nahe. Rattle sagt noch leise „Bless you. Thank you so much.“ – und entlässt einen in die Stille.

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Beitrag von Jens Lehmann

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