Theaterkritik | Community Viewing - Wenn Theateraufführungen live gestreamt und diskutiert werden

Do 02.04.20 | 11:12 Uhr | Von Oliver Kranz
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"Small Town Boy" von Falk Richter. (Quelle: Youtube-Screenshot)
Bild: Youtube-Screenshot

Online-Kulturangebote gibt es in Corona-Zeiten jede Menge, aber wo kann man noch etwas in Gemeinschaft erleben? Bei Nachtkritik.de kann live über Theateraufführungen diskutiert werden – Oliver Kranz hat es bei "Small Town Boy" von Falk Richter getan.

Die Grundidee ist einfach. Wenn viele Zuschauer ein Theatervideo gleichzeitig gucken, wirkt es wie eine Live-Übertragung. "Small Town Boy", so ist vorab in Ankündigungen zu lesen, beginnt um 20 Uhr. Wer bis dahin auf "Play" klickt, bekommt erst ein Testbild zu sehen und dann – synchron mit allen anderen Zuschauern – den Stream.

Mehr als hundert sind schon am Anfang dabei, im Laufe des Abends kommen 90 weitere hinzu – ein Publikum wie in einer Studiobühne, nur dass die Zuschauer in verschiedenen Städten sitzen. Nicht alle melden sich im Chat zu Wort, doch 20 bis 30 schon. Ihre Nachrichten ploppen mit einem glucksenden Geräusch auf dem Monitor auf. Es funktioniert: Das Live-Gefühl ist wirklich da.

"Small Town Boy" von Falk Richter. (Quelle: Youtube-Screenshot)
Bild: Youtube-Screenshot

"Warum die explizite Sprache?"

Die Kamera zeigt einen geschlossenen Vorhang, vor den zwei Schauspieler treten. Thomas Wodianka und Aleksandar Radenković sprechen über ihre erste Begegnung. Auf einmal rastet Wodianka aus. Er glaubt, das Wort "Schwuchtel" gehört zu haben und schimpft in Richtung Publikum.

"Warum diese explizite Sprache?", wird im Chat gefragt. Dabei ist es ziemlich offensichtlich: Es geht um Selbstbehauptung – um Schwule, die sich nicht verstecken, sondern auftrumpfen. Im Chat werden derweil ganz andere Dinge diskutiert: Aus welchem Anlass wurde das Video gemacht und mit wie vielen Kameras? Von welchem Club ist die Rede? Und warum bekommt Aleksandar Radenković auf der Bühne seine Lederjacke nicht auf?

"Das war keine Absicht", meldet sich der Regisseur zu Wort. Falk Richter ist der Star unter den Chat-Teilnehmern, einer der wenigen, die wichtige Informationen bieten können: Was ist improvisiert? Was steht im Text? Welche Film- und Buchzitate werden verwendet? Von Fassbinder bis "50 Shades of Grey" ist alles dabei.

 

Ein komplett anderes Theatererlebnis

Mehmet Ateşçí singt den titelgebenden Bronski-Beat-Song wie in Zeitlupe – sehr melancholisch. Störenderweise blubsen Chat-Nachrichten hinein. Das Geräusch kann man zwar ausschalten, aber ändert nichts am Problem: Der Chat lenkt ab.

Es wäre viel sinnvoller, erst in Ruhe zu gucken und danach zu diskutieren. Doch das widerspricht der Logik des Mediums. Im Internet geht es um Geschwindigkeit und Informationsfülle, um die Gleichzeitigkeit verschiedenster Eindrücke. Während ein Chat-Teilnehmer von der Falte schwärmt, die sich zwischen Thomas Wodiankas Augenbrauen bildet, wenn er wütend ist, loben andere die Kostüme oder fragen nach der Musik. Das ist ein komplett anderes Theatererlebnis. Statt das Geschehen erst einmal wirken zu lassen, wird alles sofort analysiert und kommentiert. Die Sinnlichkeit der Aufführung, die das Video sehr gut einfängt, ist kaum noch zu erleben.

Dabei bietet die Nachtkritik-Website [nachtkritik.de] auch ohne den Chat eine Fülle von Informationen – Rezensionen, Zuschauerkommentare und ein Einführungsvideo des Regisseurs – alles bestens geeignet, um den digitalen Theaterbesuch vor- oder nachzubereiten. Das glucksende Nachrichtenbombardement während der Aufführung ist unnötig - Gemeinschaftsgefühl hin oder her. Wer chattet, schaut nicht mehr richtig hin – und verpasst so vielleicht das Wesentliche.

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Beitrag von Oliver Kranz

1 Kommentar

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  1. 1.

    "Wer chattet, schaut nicht mehr richtig hin – und verpasst so vielleicht das Wesentliche." – Das Wesentliche von was genau? Eine geschnittene Version einer filmischen 3-Kamera-Aufnahme einer Theateraufführung. Worauf soll man sich da eigentlich noch wesentlich konzentrieren? Ich denke, dass der Medienwechsel samt Chat eine gänzlich andere Erfahrung sein kann und soll, als das "Wesentliche" der Inszenierung am Gorki, wenn das gemeint war.

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