Campierende obdachlose Familien - "Der Familienzusammenhalt gehört zum Kindeswohl"
Obdachlose gehören zum Straßenbild Berlins. Doch wenn Kinder dabei sind, wirkt das verstörend. Aber auch daran müsse man sich gewöhnen, so Charlottenburg-Wilmersdorfs Sozialstadtrat. Aus den Familien nehme man die Kinder fast nie. Von David Donschen
Man will sie nicht anstarren und kann doch nicht wegsehen. Auf einer Matratze an einer der orangegekachelten Wände der Fußgänger-Unterführung am Berliner Messedamm sitzen zwei Frauen. Um sie herum liegen Decken. Es riecht streng nach Urin. Und zwischen all dem spielt auf der Matratze ein vielleicht fünf Jahre altes Mädchen.
Sie kommen aus Rumänien, erzählen sie. Ein Mann, der auch zur Familie gehört und eine Flasche Schnaps vor sich stehen hat, streckt auf die Frage, wie lange sie schon in der Unterführung leben, alle zehn Finger hoch. Mehr will er, ohne dass Geld fließt, nicht sagen. Seit knapp zwei Wochen campiert die Familie also in der Unterführung. Zwischendurch war auch noch eine zweite Gruppe ebenfalls mit Kind dort. Wie kann das sein?
Ein freiheitliches Land muss vieles akzeptieren
Detlef Wagner (CDU), Sozialstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, weiß von den beiden Roma-Familien. Er sagt, der Bezirk kümmere sich um sie. Sie seien inzwischen in familiengerechten Unterkünften untergebracht. "Frauen und Kinder haben in der Obdachlosigkeit nichts zu suchen. Da haben wir schnell Angebote gemacht", sagt Wagner, der selbst Familienvater ist. Die Familien hätten aber nicht sofort auf die Angebote reagiert. Sie seien am nahe gelegenen Busbahnhof angekommen und hätten sich von diesem nicht weit entfernen wollen. Wagner betont, wie mobil die Menschen heute seien. "Nach Deutschland zu kommens ist kein großes Problem. Die Fahrt ist mit dem Bus machbar und gar nicht teuer."
Dass zumindest eine der Familien tagsüber weiter in der Unterführung campiert und wohl rund um den Zentralen Omnibusbahnhof bettelt, kann ihnen niemand verbieten. Es seien Bilder, so der Sozialstadtrat, an die man sich gewöhnen müsse. Obwohl es wirklich traurig sei, das in "so einem reichen Staat zu sehen". Doch gerade ein so freiheitliches Land wie Deutschland wie Deutschland müsse auch akzeptieren, dass es Menschen gibt, die keine Hilfe annehmen.
Das Jugendamt überprüft den Zustand der Kinder
Aber Kinder, die zwischen Gestank und Dreck spielen - muss der Bezirk da nicht mehr tun? Das Jugendamt prüfe in solchen Fällen sehr genau, wie es dem oder den Kindern gehe. Nur wenn es einem Kind nicht gut gehe, seine Gesundheit gefährdet sei, könne es "als Ultima Ratio" untergebracht werden. "Doch auch der Familienzusammenhalt gehört zum Kindeswohl", gibt Wagner zu bedenken. "Ein Kind ist bei seiner Familie, die es liebt, im Endeffekt immer besser aufgehoben als in einer staatlichen Institution".
Auch im Fall der beiden Familien schaue das Jugendamt genau hin, sagt Wagner. Unterstützt wird der Bezirk von Amaro Foro, einem Verein, in dem sich junge Roma engagieren. "Diese Ehrenamtlichen unterstützen die Familien, zeigen ihnen Möglichkeiten auf." Denn der Staat könne nicht alles machen.
Familiärer Zusammenhalt als höchstes Gut
Von der Möglichkeit, die Kinder herauszunehmen, sei zumindest im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf im vergangen Jahr bei ähnlichen Fällen kein einziges Mal Gebrauch gemacht worden, sagt Wagner. Das sei ein schwieriger Abwägungsprozess für die Jugendämter. Doch das höchste Gut, betont Wagner noch einmal, "ist der familiäre Zusammenhalt".
Das ist sicher nicht für jeden nachvollziehbar, der die Kinder auf der Straße campieren oder betteln sieht.
Sendung: rbb 88.8, 15.08.2019, 17:50 Uhr